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Von den Landfrauen gebaut und kurz vor dem Abriss
Der Kindergarten Boll-Sinneringen steht vor dem Abriss. Gebaut hat ihn vor über 50 Jahren der Landfrauenverein mit Hilfe aus dem Dorf. Die Gemeinde sah keinen Bedarf. Mitinitiantin Monique Sommer blickt zurück.

Der Kindergarten in Boll-Sinneringen, Gemeinde Vechigen, ist herzig, aber alt. Die rund 55 Jahre, die der eingeschossige Bau auf dem Buckel hat, sieht man ihm an. Die Gemeinde Vechigen will ihn deshalb ersetzen. Eine Machbarkeitsstudie prüfte auch die Sanierung, kam aber zum Schluss, dass ein Neubau wirtschaftlicher ist. Aktuell läuft die Planung, voraussichtlich Ende Jahr wird die Gemeindeversammlung über den Baukredit entscheiden.
Für Monique Sommer ist das schwer zu verdauen. «Der Kindergarten ist doch noch gut», findet sie. Und: «Die Kinder brauchen doch keinen Palast.» Dass der bevorstehende Abbruch bei der 86-Jährigen Trauer auslöst, ist verständlich, wenn man weiss, wie der Kindergarten entstanden ist und was sie selber dazu beigetragen hat.
«Ein Zämestah»
1969, als er gebaut wurde, war der Besuch eines Kindergartens im Kanton Bern noch nicht obligatorisch, das wurde er erst 1999. Die Initiative, in Boll einen auf die Beine zu stellen, kam vom Landfrauenverein. Er hat alles organisiert, verhandelt, Geld aufgetrieben und selber Hand angelegt. «Die Gemeinde fand es nicht nötig, einen Kindergarten zu bauen», erzählt Sommer.
Ans Werk machte sich, wie auch in anderen Berner Gemeinden, die Dorfgemeinschaft: Das Land für den Kindergarten stellte die Kartonfabrik aus dem benachbarten Deisswil zur Verfügung, das Holz spendeten Bauern, der Architekt und der Bauführer arbeiteten gratis. Die Landfrauen verkauften in Berner Tracht Züpfe auf dem Bundesplatz, um Geld aufzutreiben – Mehl, Eier und Butter hatten ebenfalls Bauern aus dem Dorf gespendet. Auch auf der Baustelle waren die Landfrauen aktiv: Sie und ihre Ehemänner halfen regelmässig auf der Baustelle mit. Dachziegel bekamen sie gratis, als in Zollikofen ein Haus abgerissen wurde. «Es war ein Zämestah der Gemeindebürger und -bürgerinnen», erinnert sich Sommer.
Anfängliche Skepsis bei den Bauernfrauen
Monique Sommer war mittendrin. Zuerst als Mitglied der Landfrauen, als für die weitere Arbeit ein Kindergartenverein gegründet wurde, führte sie unter dem ersten Präsidenten César Burkhardt zuerst das Sekretariat und stand dem Verein später über 30 Jahr lang als Präsidentin vor. So begleitete sie den Aufbau von vier weiteren Kindergärten auf dem Gebiet der Gemeinde Vechigen: In den alten Schulhäusern in Vechigen und auf dem Dentenberg, in Utzigen und zuletzt im alten Schulhaus Littewil.
Nur um den Lohn der Kindergärtnerinnen kümmerte sich die Gemeinde. Das Geld dafür beantragte Vechigen beim Kanton. Erst 2009 wurde der Kindergartenverein aufgelöst. Auch heute gibt es wieder fünf Kindergärten, die meisten haben aber neue Standorte.
Die Vorteile eines Kindergartens hatte Monique Sommer am eigenen Leib erfahren. Ihre Mutter stammte aus der Romandie. Zwar lebte die Familie mitten in der Stadt Bern, doch zu Hause wurde französisch gesprochen. Dank dem Kindergarten konnte sie Deutsch lernen und war so für den Schulbesuch gerüstet. Auch in Vechigen, wo sie mit ihrem Mann nach der Heirat hinzügelte, gab es fremdsprachige Kinder. Von vietnamesischen Flüchtlingen etwa. Und Kinder von abgelegenen Bauernhöfen, die laut Sommer sprachlich auch nicht eben gut dran waren. «Die haben zu Hause kaum gesprochen und im Kindergarten erst richtig sprechen gelernt.» Gerade von Bauernseite aber habe der Kindergarten Skepsis erfahren zu Beginn. «Die Bauernfrauen machten sich Sorgen, dass sie die Kinder nun jeden Tag sauber anziehen müssen.» Trotzdem hätten schliesslich restlos alle in der Gemeinde ihre Kinder in den Kindergarten geschickt. «Es gab den Frauen ja auch ein wenig Freiheit, wenn die Kinder aus dem Haus waren.»
Nicht mehr das Optimum
Dass der ganze Aufwand, den die Vechiger Frauen und Männer beim Bau des Kindergartens Sinneringen betrieben haben, nun nichts mehr wert
sein soll, will ihr nicht in den Kopf. Dafür hat Gemeindepräsidentin Sibylle Schwegler-Messerli (SVP) Verständnis. Der Kindergarten sei schön und die Kinder darin glücklich. In vielem entspreche der Bau aber nicht mehr den Erfordernissen. Einerseits energetisch, Klimawandel und Energieeffizienz hatte man in den Sechzigerjahren noch nicht auf dem Schirm. Andererseits hat sich auch der Platzbedarf verändert, braucht ein Kindergarten heute grössere Räume. Und nicht zuletzt besuchen heute schon Vierjährige den Kindergarten, dafür müssen etwa Lavabos und WCs tiefer montiert werden. «Was vor 50 Jahren das Beste war, ist heute nicht mehr das Optimum», fasst sie zusammen. «Aber was die Frauen damals geleistet haben, ist sensationell.»
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