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Von Graffenried: «Sie rufen zwar aus, aber sie kommen trotzdem»
Stadtpräsident Alec von Graffenried erklärt, wieso er eine weitere Legislatur anstrebt, wieso ihm eine 12-Millionen-Schweiz keine Angst macht – und wieso er im Januar auf Alkohol verzichtet.
Herr von Graffenried, haben Sie Neujahrsvorsätze gefasst?
Ja, ausnahmsweise. Ich habe mir vorgenommen, während des Januars keinen Alkohol zu trinken.
Trinken Sie denn normalerweise viel Alkohol?
Nicht viel, aber wie viele Politiker sehr regelmässig. Ich lege zwar jede Woche ein paar Tage ohne Alkohol ein, aber es tut sicher gut, einen Monat gar keinen Alkohol zu trinken. Bis jetzt fällt es mir auch nicht schwer.
Viele nutzen die Festtage, um das letzte Jahr Revue passieren zu lassen. Was blieb Ihnen aus dem Jahr 2023 in Erinnerung?
Das dominierende Thema waren leider die Kriege. 2023 zeigte sich, dass der Krieg in der Ukraine eine längerfristige Angelegenheit wird. Und dann kam noch der Krieg in Israel dazu. Das ist alles schon sehr niederschmetternd und hat sich wie ein Schleier über das Jahr gelegt. Auch wenn wir natürlich nicht direkt betroffen sind, hat es dem Leben Leichtigkeit genommen.
Teilen Sie das Gefühl, dass alles immer schlimmer wird?
Nein, das glaube ich nicht. Man ist daran, Lösungen für die grossen Probleme wie den Klimawandel oder die Armut zu suchen, und macht dabei auch Fortschritte. Die Kriege wirken wie aus der Zeit gefallen. Umso wichtiger ist, dass wir dem System Putin einen Riegel schieben, es darf auf keinen Fall erfolgreich sein. Das ist Faschismus pur und widerspricht allem, wofür wir und Europa gekämpft haben.
Woher schöpfen Sie denn Hoffnung?
Ich bin überzeugt, dass Menschen rationale Wesen sind. Und es ist offensichtlich, dass das Leben in einer Friedensordnung viel mehr Chancen bietet. Putin und die Hamas hätten so viele bessere Möglichkeiten, ihre Gebiete wirtschaftlich zu entwickeln, als eine Terrorherrschaft aufzuziehen. Putin muss an einer schweren Persönlichkeitsstörung leiden, dass er das nicht sieht. Trotzdem: In den letzten hundert Jahren hat sich die Welt positiv entwickelt. Es gibt keinen Grund, zu glauben, dass sich das Gute nicht auch weiterhin durchsetzt.
In den letzten 20 Jahren ist in der westlichen Welt der Rechtspopulismus enorm erstarkt – das dürfte Ihnen auch keine Freude bereiten.
Ich habe nicht gesagt, dass alles gut sei. Das dahinterliegende Problem lässt sich vermutlich auch auf die Mediennutzung und die Mediengesellschaft zurückführen. Negative Informationen erhalten enormes Gewicht. Ein Busunfall in Ostasien füllt ganze Zeitungsseiten, positive Entwicklungen werden kaum erwähnt. Dadurch entsteht das Gefühl, dass alles den Bach runter geht.
Welche positiven Entwicklungen meinen Sie?
Nehmen Sie den Strassenverkehr. In der Stadt Bern gibt es praktisch keine tödlichen Unfälle mehr. Das war vor 20 Jahren noch ganz anders. Auch Tötungsdelikte gibt es kaum mehr. Die meisten Morde in der Schweiz finden am Sonntagabend im «Tatort» statt.
In Bern finden dieses Jahr Wahlen statt. Kandidieren Sie für eine weitere Amtszeit?
Ja, wenn mich meine Partei nominiert.
Was wollen Sie in einer dritten Legislatur erreichen?
Es gibt eine starke Erneuerung im Gemeinderat, da sorge ich für Kontinuität. Ich habe zahlreiche Arealentwicklungen aufgegleist. Diese Projekte will ich noch zu Ende führen. Auch die laufende Bauordnungsrevision möchte ich in der nächsten Legislatur abschliessen.
Von den teilweise stockenden Arealentwicklungen war schon viel zu lesen. Aber was sind die Eckwerte der Revision der Bauordnung?
Die Zeiten, in denen die Stadt Bern einfach an den Rändern weiterwachsen kann, sind vorbei. Das heisst, wir streben eine innere Verdichtung an. Dies wird aber durch viele Vorschriften behindert. In den 1980er-Jahren wurde beispielsweise die Bauklasse E geschaf-fen, weil zuvor Quartiere aus der Gründerzeit mit wenig durchdachten Neubauten verschandelt wurden, was sich etwa an der Thunstrasse beobachten lässt. Diese Bauklasse ist aber sehr rigide gehalten. Das müssen wir zum Beispiel anpassen.
Damit droht die Gefahr, dass es erneut zu Verschandlungen kommt.
Die Gefahr besteht. Man muss es deshalb sorgfältig, gekonnt und mit Respekt vor der gebauten Umgebung machen. Klar ist aber, dass es nicht einfach wird. Es wird Diskussionen geben, vielleicht auch ein Seilziehen. Aber ich freue mich sehr darauf, diesen Prozess zu gestalten und zu begleiten.
Fraglich ist, ob Sie die Gelegenheit erhalten. Durch den Zusammenschluss der Oppositionsparteien dürfte Ihr Bündnis einen Sitz verlieren. Als Mann und ohne grosse Partei im Rücken wird Ihre Wiederwahl kein Selbstläufer.
Wahlen sind nie Selbstläufer. Und sollte RGM einen Sitz verlieren, gehen wir eigentlich wieder zurück zum Regelfall. Die Situation, dass alle vier RGM-Kandidierenden gewählt werden, ist eher ein Sonderfall.
Die SP als Bündnispartner überlegt, das Stadtpräsidium anzugreifen. Würde Ihnen das sogar nützen? Sie erzielten beim Zweikampf mit Ursula Wyss vor sieben Jahren das bessere Ergebnis als ohne Gegenkandidatur vor drei Jahren.
Ich weiss nicht, ob mir das nützen würde. Aber ich kann mir eine bündnis-
interne Gegenkandidatur kaum vorstellen. Schliesslich bräuchte es einen politischen Grund, das Stadtpräsidium anzugreifen. Und den sehe ich nicht.
Vielleicht findet die Partei, dass es Zeit für eine Frau an der Spitze der «Hauptstadt des Feminismus» sei.
Das mag sein. Aber wenn ich schaue, was personalpolitisch bei den Parteien passiert, ist davon auszugehen, dass es ohnehin eine Frauenmehrheit im Gemeinderat geben wird.
Sie sind vor sieben Jahren angetreten, um Brücken zu bauen und die Zusammenarbeit mit der Agglomeration zu stärken. Ist das gelungen?
Die Zusammenarbeit mit der Agglomeration funktioniert sehr gut, etwa im Rahmen der Regionalkonferenz. Die Fusion mit Ostermundigen ist zwar gescheitert, aber das war auch ein sehr ehrgeiziges Ziel. Nun gilt es, andere Wege zu finden, um die Zusammenarbeit zu dynamisieren. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass der Standort aktiv entwickelt werden muss. Themen wie Start-up-Förderung und Digitalisierung können die Gemeinden nicht al-leine angehen. Die Wirtschaft hat die Notwendigkeit von überregionaler Zusammenarbeit längst erkannt und wird daher auch ein Treiber sein für den nächsten Entwicklungsschritt.
Es ist nicht nur die Fusion. Die Stadt Bern löst vielerorts reflexartige Ablehnung aus.
Wenn das so wäre, kämen die Leute gar nicht mehr in die Stadt. Dem ist aber nicht so. Viele wollen in die Stadt ziehen, wir haben einen rekordtiefen Wohnungsleerstand. Manche rufen zwar aus, aber sie kommen zum Glück trotzdem in die Stadt, um zu arbeiten, einzukaufen oder an Veranstaltungen zu gehen. Es ist eine Abstimmung mit den Füssen.
Aber sie rufen aus. Und nicht zuletzt wegen dieser Anti-Stadt-Haltung scheiterte die Fusion mit Ostermundigen.
Mir ist es nach wie vor ein Rätsel, wieso Ostermundigen die Fusion nicht wollte. Es wäre viel Geld von Bern nach Ostermundigen geflossen. Aber offenbar wollten sie dieses Geld nicht. Das Gerede von den Finanzproblemen der Stadt entbehrt jeglicher Grundlage. Bern verfügt über hohes Vermögen, eine hohe Steuerkraft und entsprechend über eine äusserst gute Bonität. Wenn die Stadt die Steueranlage von Ostermundigen hätte, würden wir jedes Jahr 45 Millionen Franken Überschuss erwirtschaften.
Dominierend war das Gefühl, dass die Stadt zu links sei.
Nehmen wir die viel gescholtene Verkehrsberuhigung. Wir haben eine Situation geschaffen, in der die Stadtbevölkerung nicht mehr mit dem Auto einkaufen muss, weil sie sich überall in Fussdistanz versorgen kann. Das hat zu einer Revitalisierung der Quartiere und einer Erhöhung der Lebensqualität geführt. Mittlerweile haben auch die Agglomerationsgemeinden angefangen, Tempo-30-Zonen zu schaffen. Ich sehe die Stadt also hauptsächlich als Labor, in dem Dinge ausprobiert werden, die dann 10–20 Jahre später auch in der Agglomeration oder auf dem Land Einzug halten.
Parallel zur Lebensqualität stiegen auch die Mieten.
Die steigenden Mieten sind ein grosses Problem. Aber wir können doch nicht die Lebensqualität tief halten, damit die Mieten nicht steigen.
Nein, aber man müsste vielleicht konsequenter gegen die steigenden Mieten vorgehen.
Wir gehen dagegen vor. Denn wenn wir nichts machen, können sich in Zukunft wirklich nur noch Reiche das Leben in der Stadt leisten, das wollen wir nicht. Wir haben deshalb festgelegt, dass bei Auf- und Einzonungen ein Drittel der Wohnungen im preisgünstigen Segment liegen muss. Bei unseren städtischen Arealen ist der Anteil teilweise noch grösser.
Es scheint nicht zu genügen.
Die Vorlage ist jetzt seit drei Jahren in Kraft. Es geht nicht so schnell, bis sich die Wirkung entfaltet. Es handelt sich um eine längerfristige Strategie.
Auch die Zuwanderung ist für die steigenden Mieten mitverantwortlich. Sollte man sie stärker begrenzen?
Nein.
Bereits leben neun Millionen Menschen in der Schweiz und das Wachstum geht ungebremst weiter. Mit Folgen für Infrastruktur, Umwelt, Sicherheit …
Es ist eine Frage des Perimeters. Bereits 400 Kilometer östlich der Schweiz schrumpft die Bevölkerung. Selbst in Deutschland gibt es Regionen, die mit Bevölkerungsschwund zu kämpfen haben. Wichtiger ist die Bevölkerungsentwicklung in ganz Europa, und die ist stabil bis sinkend. Vielleicht leben auch einmal zehn, elf oder zwölf Millionen Menschen hier. Damit wären wir immer noch über dreimal weniger dicht besiedelt als die Region Paris.
Sie sehen eine Zwölf-Millionen-Schweiz nicht als Schreckensszenario?
Nein. In Taiwan leben beinahe 25 Millionen Menschen und es funktioniert trotzdem – obwohl die Fläche kleiner ist und es sogar noch mehr Berge hat als in der Schweiz. Ausserdem wissen wir nicht, wie es in 20 Jahren aussieht. Es gibt immer auch Verschiebungen betreffend Bevölkerungsentwickung.