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Regula Rytz: Unbequeme Wahrheiten

Die Klimaerwärmung schreitet ungebremst voran. Zahlreiche Naturkatastrophen seien die Folge davon, mahnt «Anzeiger»-Kolumnistin Regula Rytz. Trotzdem reduzierten Firmen ihre Klimaziele. Zeit, dass die Politik die Zügel an die Hand nehme. Die Rezepte seien schliesslich längst bekannt.

| Regula Rytz | Politik
Regula Rytz. Foto: zvg
Regula Rytz. Foto: zvg

Waren Sie schon mal in Peccia? Ein wunderbar wildes Tal im Tessin, in dem seit 1946 Marmor abgebaut wird. Zumindest bis in diesem Sommer. Seit der Unwetterkatastrophe von Ende Juni ist das Tal unter Erdrutschen begraben. Häuser, Ställe, Strassen, Autos, Menschen wurden von Stein- und Wassermassen mitgerissen. Es dauert Jahre, bis alles verheilt ist. Wenn überhaupt. Denn die Menschen, die dort leben, sind verunsichert. Sie wissen, dass es immer wieder passieren kann. Je stärker sich das Mittelmeer erhitzt, desto mehr feuchte Luft wird gegen die Alpen getragen. Über 30 Grad Wassertemperatur wurden im August bei Venedig gemessen. Ein Rekordwert, der schon im nächsten Jahr übertroffen werden kann. Denn die Erderwärmung und die damit verbundenen Veränderungen gehen ungebremst weiter.

Ich war per Zufall im Tessin, als das Unglück geschah. 20 Kilometer vom zerstörerischen Wolkenbruch entfernt. Auch bei uns tobte das Unwetter, aber wir hatten Glück. Anders als die Menschen in Peccia, Brienz, im Misox,
im Saasertal, in Polen, Tschechien, Deutschland, Ungarn, Österreich, Norditalien, Südfrankreich, Nepal, Viet­nam, Laos, Burma, China, Nigeria, Tschad, Marokko oder Guatemala blieben wir verschont. Zumindest in diesem Sommer. 

Doch auch wir wissen: Die Risiken steigen. Seit vielen Jahren untersuchen Forschungsteams, welchen Einfluss der Klimawandel auf Stürme, Stark­regen und Hitzewellen hat. Die neusten Studien zeigen, dass Wetterextreme aufgrund der menschengemachten Klimaerwärmung um 1,3 Grad doppelt so wahrscheinlich und um 7 Prozent heftiger geworden sind. Steigt die Durchschnittstemperatur um 2 Grad, würde die Wahrscheinlichkeit noch einmal um 50 Prozent zunehmen. 

Doch das ist nicht alles. Alle Regierungen dieser Welt wissen, dass die Klima­veränderung die Lebensgrundlagen der Menschen bedroht. «Jede noch so kleine Zunahme der globalen Erwärmung wird multiple und gleichzeitig auftretende Gefahren verstärken», schrieb der Weltklimarat 2023 in einem Bericht für politische Entscheidungsträger. Der Meeresspiegel steigt, die Wind- und Meeresströmungen verändern sich, viele Tier- und Pflanzenarten sterben aus und neue machen sich breit. Alles Entwicklungen, die enorme Anpassungsleistungen und viel Geld für Schadensbegrenzung nötig machen. Millionen von Menschen werden nicht bleiben können, wo sie heute leben. 

Angesichts der wissenschaftlichen Klarheit ist mir schleierhaft, warum sich Politiker in diesem Sommer überrascht zeigten vom Ausmass der Naturgewalt. «Nie hätten wir mit einem solchen Hochwasser rechnen können», jammerte zum Beispiel der bayerische Ministerpräsident Markus Söder in die Kameras. Ja hat er denn Tomaten auf den Augen? Es ist nicht die Natur, die sich gegen die Menschheit verschwört. Es ist die von Menschen veränderte Natur, die ihren physikalischen Gesetzen folgt. So enthält feuchte Luft pro Grad Erwärmung 7 Prozent mehr Wasserdampf. Physik ist auch, dass sich durch die Verbrennung von Öl oder Kerosin die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre erhöht und den Wärmehaushalt der Erde stört. 

Längst wissen wir, wie wir diesen Prozess stabilisieren können: Durch den Ausstieg aus dem Verbrennermotor, durch den Ausbau von Solar- und Windenergie, durch Energieeffizienz, durch Kreislaufwirtschaft und vieles mehr. Anstatt nach diesem Katastrophensommer endlich vorwärtszumachen und sich für die kommenden Generationen ins Zeug zu legen, passiert leider genau das Gegenteil. Viele Firmen reduzieren ihre Klimaziele. Und bei den europäischen Wahlen wurden die Grünen als «Moralapostel» abgestraft. Nur weil sie – wie einst Kassan­dra – vor unbequemen Wahrheiten nicht zurückschrecken und zeigen, dass Klimaschutz als Menschenschutz dringlich, machbar, wirkungsvoll, wirtschaftlich, sozial und positiv für alle ist. Ausser für die Ölindustrie. Soll die weiterhin am stärkeren Hebel sitzen? 

Zur Person: Regula Rytz ist Historikerin und Präsidentin von Helvetas. Sie war Präsidentin der Grünen Schweiz, Nationalrätin sowie Gemeinderätin der Stadt Bern. 


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