Anzeige
Kolumnistin Regula Rytz: Perspektivenwechsel
Regula Rytz erinnert daran, dass der pure Zufall darüber entschiedet, wo wir geboren werden. Auch das nationale Parlament soll sich dies vergegenwärtigen, bevor es über eine Kürzung der Entwicklungszusammenarbeit befindet, fordert die «Anzeiger»-Kolumnistin. Selbst wenn das gesparte Geld in die Armee fliessen soll: Sicherer werde die Welt nicht, wenn man aufhöre, die globale Ungleichheit zu bekämpfen.
Leben Sie gerne in der Schweiz? Ich sehr. Jeden Morgen freue ich mich darüber, dass sauberes Wasser fliesst, der Kühlschrank gefüllt und der Arbeitsweg verkehrsberuhigt ist. Jeden Tag lobe ich die Fachleute, die unsere Gesundheitsversorgung sicherstellen, die technische Infrastruktur in Schuss halten oder den Zivilisationsabfall entsorgen. Jeden Abend bin ich dankbar, dass ich frei reden kann, keine Schmiergelder bezahlen muss und im Notfall auf Polizei und Justiz zählen kann. In weiten Teilen der Welt sieht das ganz anders aus.
Immer öfter frage ich mich, warum ich das Glück hatte, ausgerechnet in der Schweiz geboren worden zu sein. Es gibt keine Antwort. Es war einfach Zufall. Es hätte auch Pakistan sein können. Dann würde ich vielleicht nach der Flutkatastrophe von 2022 immer noch in einem Zelt wohnen, bedroht von Hunger und Seuchen. Oder Sambia. Das afrikanische Land ist reich an Bodenschätzen. Und trotzdem eines der ärmsten der Welt. Denn die Gewinne aus dem Kupferabbau gehen über den Schweizer Glencore-Konzern an internationale Aktionäre. Und in die Staatskassen des Kantons Zug. Die Menschen in Sambia dagegen bleiben auf vergiftetem Trinkwasser sitzen. Noch schlimmer ist es in Darfur. Hätte mich der Zufall hierher verschlagen, dann wäre ich heute auf der Flucht vor bewaffneten Milizen, die wahllos Kinder, Frauen und Männer ermorden. Der Grund für die Massaker: Ein Konkurrenzkampf um Bodenschätze, vor allem um Gold. Auch hier kommt wieder die Schweiz ins Spiel. Denn ein Teil des aus dem Sudan gehandelten Blutgoldes wird heute über die Vereinigten Arabischen Emirate in die Schweiz geschoben und zu «Schweizer Gold» veredelt. Das muss endlich ein Ende haben!
Wenn man sich die Armuts- und Konfliktzonen dieser Welt genauer anschaut, findet man viele historische und wirtschaftliche Verbindungen zu den reichen Industrieländern und «ihren» Konzernen. Es sind keine lokalen, sondern internationale Dramen, die sich vor unseren Augen abspielen. Auch die Folgen der Klimakrise gehören dazu. Die Länder, die am stärksten unter Wetterextremen ächzen sind die, die am wenigsten zur globalen Erwärmung beigetragen haben. Die normalen Menschen dort hatten nie Geld für Massenkonsum und Flugreisen. Sie haben auch kein Geld, um sich gegen Dürre oder den steigenden Meeresspiegel zu schützen.
Im Wissen um diese internationalen Verflechtungen war es bisher selbstverständlich, die armen Länder auf dem Weg aus der Armut zu unterstützen. Die UNO legt fest, dass die wohlhabenden Staaten 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit einsetzen. Die reiche Schweiz hat diese Quote nie erreicht. Aber immerhin sie hat mit langfristig angelegten Programmen wichtige Erfolge für mehr Bildung, Ernährungssicherheit, Frauenrechte oder Berufsperspektiven im globalen Süden erzielt. All das ist in Gefahr. Denn das nach rechts gerutschte Parlament will die Gelder für die internationale Zusammenarbeit trotz Multikrisen massiv zusammenstreichen. Aufgrund der viel zu restriktiven Schuldenbremse soll Geld aus dem Entwicklungsbudget in den zusätzlichen Armeeausbau fliessen. Unter dem Strich bedeutet dies mehr Unsicherheit. Denn eine Welt, in der immer mehr Menschen nichts mehr zu verlieren haben, ist eine gefährliche Welt.
In der Bundesverfassung gibt sich die Schweiz den Auftrag, «zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte und zur Förderung der Demokratie (…) beizutragen». Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt diese Verpflichtung und hilft mit eigenen Spenden mit – dankbar dafür, dass wir per Zufall in der sicheren Schweiz und nicht im kriegsgeplagten Sudan geboren wurden. Erinnern wir Bundesrat und Parlament daran, dass Menschlichkeit und Solidarität immer im Interesse unseres Landes bleiben (https://www.solidaritaets-alarm.ch/). Wer die Armee ausbauen will, muss andere Finanzierungsquellen finden.
Zur Person: Regula Rytz ist Historikerin und Präsidentin von Helvetas. Sie war Präsidentin der Grünen Schweiz, Nationalrätin sowie Gemeinderätin der Stadt Bern.