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Kolumnist Marcel Niggli über das Reisen und das Unbekannte

Komfort und Sicherheit widersprechen dem Kern des Reisens, argumentiert «Anzeiger»-Kolumnist Marcel Niggli. Das Abenteuer und das Sich-Einlassen auf Unbekanntes sei der eigentliche Gewinn, wenn man die Landesgrenzen verlasse.

| Marcel Niggli | Wirtschaft
Marcel Niggli. Foto: zvg
Marcel Niggli. Foto: zvg

Meine letzte Kolumne hat sich mit Standardisierung beschäftigt, mit Vereinheitlichung und der Ablehnung des Föderalismus. Das ist – wie zu erwarten war – nicht überall auf Zustimmung gestossen. Deshalb hier ein Nachtrag:


Weshalb reisen wir? Die offensichtlichste Antwort wäre wohl, um die Welt zu erkunden, um Neues zu entdecken. Das aber setzt eben ein Unbekanntes voraus, setzt voraus, dass wir uns einlassen auf Fremdes, Unvertrautes. Wir tun dasselbe, wie wenn wir lieben: Wir verlassen unsere Komfortzone. Wenn reisen wie zu Hause bleiben wäre, würde sich die Frage nach dem Sinn des Reisens stellen. Denn an einen Ort zu reisen, wo alles genau so ist wie zu Hause, ergäbe wenig Sinn. Das wäre dann wohl weniger ein Reisen als ein Verschieben von einem Ort zu einem anderen (so denn auch der Terminus im Militär). Dass die Dinge nicht so sind wie zu Hause, macht das Attraktive des Reisens aus. Und Bequemlichkeit steht dem leider entgegen. Wer möchte, dass alles ist wie zu Hause, nimmt vom Reisen wohl besser Abstand, wie Oblomow, der träge Held des gleichnamigen Romans von Gontscharow.


Aber natürlich gibt es Versuche, Reisen mit Bequemlichkeit zu kombinieren. Ganze Orte haben sich auf den Wunsch der «bequemen Fremde» spezialisiert und versuchen, Gäste dadurch anzuziehen, dass alles ist wie zu Hause, inklusive der altbekannten Speisen und Getränke. Fraglich bleibt nur, ob eine Reise zum Ballermann wirklich eine Reise ist, oder einfach ein Verschieben des heimatlichen Umfelds anderswohin. Fraglich bleibt, warum wir nach Italien reisen sollten, um Schweizer Wein zu trinken.


Ebenso wie das Vorhaben scheitern muss, das bekannte Heimatliche in die Ferne zu transponieren, scheitert auch umgekehrt das Verpflanzen der Ferienumgebung nach Hause. Jeder kennt das Gefühl, dass eine bestimmte ­Speise am Ferienort gänzlich anders schmeckt als zu Hause. Und das liegt eben nicht nur am Rezept. Nur wer nicht verstanden hat, dass die Dinge mit Ortswechsel oder Ablauf der Zeit ihren Charakter verändern, wird sich darüber wundern. Nur wer nicht versteht, dass die Magie des Augenblicks sich nicht festhalten lässt, wird überrascht sein. Liebschaften bei Kur­aufenthalten waren früher, was heute die Ferienflirts sind. Sie funktionierten in Ausnahmesituationen, aber nicht im Alltag. Denn der Alltag ist die Gefahr, die immer droht, das wirklich Interessante und Wertvolle, worin Leben besteht, zuzudecken mit einer Decke von Gewohnheiten, die verhindern, dass wir den Moment in seiner Einmaligkeit wahrnehmen. Kurz: Reisen ist eine Form von Abenteuer, wenngleich auch eine gemässigte.


Dieses Abenteuer aber, der eigentliche Gewinn des Reisens, wird durch den Komfort eben gemindert. Wenn Reisen wie zu Hause bleiben ist, kann man es eigentlich sein lassen. Wer in jedem Restaurant stets nur bestellt, was er kennt, verpasst das wahrscheinlich Interessanteste. Genau das stösst uns ja an der sogenannten «internationalen Küche» so ab: Ob in Helsinki oder Schanghai, überall dasselbe. Aber wieso sollte man nach Abu Dhabi reisen, um dort Insalata Caprese zu essen?


Zugegeben: Man kann es mit dem Abenteuer natürlich auch übertreiben. Wer wochenlang nur lokales Essen bekommen hat, sehnt sich vielleicht nach Schweizer Brot oder gar einem Fondue. Und natürlich träumt niemand davon, überfallen oder gar verletzt zu werden. Aber wo solche Risiken ausgeschlossen sind, erhöht jede kleine Eigenheit, jedes kleinste Unbekannte den Wert unserer Reise. Wenn niemand irgendeine Sprache versteht, die wir sprechen, beginnt das eigentliche Abenteuer. Wenn die Stromstecker nicht passen, das Mobiltelefon nicht funktioniert oder die Kreditkarten, die wir bei uns haben, nicht funktionieren, wird uns bewusst, dass die Dinge anders sein können und trotzdem gut. Und selbst eine Adresse zu finden, kann zu einem wirklichen Abenteuer werden. Reisen wie einst vor langer, langer Zeit.

Zur Person: Marcel Niggli ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg.


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