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Kolumne zum Klima-Entscheid gegen die Schweiz
Anstatt den Rechtsweg zu beschreiten, hätten die Klimaseniorinnen besser von den (direkt-)demokratischen Möglichkeiten Gebrauch gemacht, schreibt «Anzeiger»-Kolumnist Marcel Niggli. Doch auch mit dem Gericht geht der Kriminologe hart ins Gericht.
Viel ist geschrieben und gestritten worden, seit der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 9. April 2024 sein Urteil gesprochen hat in der Sache «Verein Klimaseniorinnen Schweiz und andere» gegen die Schweiz (Nr. 53600/20), mit welchem die Schweiz verurteilt wurde, weil sie zu wenig gegen den Klimawandel tue.
Nun ist es ja eine schöne Sache, wenn sich Menschen für etwas engagieren, und besonders schön ist es, wenn sie das auch noch im hohen Alter tun. Und doch, und doch … So richtig froh wird man mit dem Engagement der Klimaseniorinnen nicht. Warum denn eine Klage? Warum der Weg über das Recht? Was genau hätte gegen ein politisches Engagement gesprochen? Gerade in einem Land wie der Schweiz, mit seinen direktdemokratischen Möglichkeiten.
Dass es zu langsam geht? Mag sein, aber wer das sagt, mag die Demokratie nicht. Denn es ist das Wesen der Demokratie, miteinander zu sprechen und zu streiten und erst danach zu entscheiden. Und das braucht eben Zeit. Wer Eile mag, hat zur Demokratie zwingend ein gespanntes Verhältnis. Darf ich freundlich an die Coronazeit erinnern und die skandalöse Selbstaufhebung unseres Parlamentes? Natürlich geht in Diktaturen alles schneller, aber gibt es auf der Welt nicht bereits genug totalitäre Systeme?
Die nächste Rechtfertigung – wir hören sie, noch bevor sie ausgesprochen wird – ist natürlich das Geschlecht. Die Politik ist eine Männerdomäne, ist männlich dominiert. Ach ja? Vielleicht erinnert man sich, dass im Berner Stadtrat bis zur letzten Wahl fast 70 Prozent Frauen waren und dass sie auch heute, nach der letzten Wahl, 54 Prozent stellen? Das wird doch gewiss an den Männern liegen! Hilft vielleicht der Hinweis, dass in der Schweiz rund 220 000 Frauen mehr wahlberechtigt sind als Männer? Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Frauen (in der Schweiz wie anderswo auf der Welt) eine höhere Lebenserwartung haben, wobei die Gründe dafür mannigfaltig sind. Resultat ist jedenfalls, dass alleine in der Gruppe der Über-65-Jährigen der Frauenüberschuss gegenüber den Männern mehr als 170 000 beträgt. Rein zahlenmässig hätten es die Frauen also in der Hand, mit ihrem Stimm- und Wahlverhalten die Politik klar zu dominieren.
Trotzdem haben die Klimaseniorinnen den Rechtsweg vorgezogen. Man wird mir verzeihen, wenn ich das aus demokratischer Perspektive nicht so schön finde. Man könnte vorbringen, es gehe eben um ganz Wichtiges, das keinen Aufschub dulde (gibt es wirklich Dinge, die es wert sind, dafür die Demokratie zu opfern?), und die Klägerinnen setzten sich ja fürs Gemeinwohl ein. Aber das stimmt so eben leider auch nicht. Die Klage und das Urteil sind durchzogen von der Betonung der besonderen, erhöhten Risiken, denen ältere Frauen (im Vergleich zu Männern) unterliegen, aber sogar die Klägerinnen im Vergleich zu anderen älteren Frauen. Selbstlos war die Klage sicherlich nicht. Ganz abgesehen da-von, dass es merkwürdig anmutet, die eigenen Leiden in Vergleich zu setzen mit einer Bevölkerungsgruppe, die nicht mehr leiden kann, weil sie schon gestorben ist.
Das Merkwürdigste aber ist, wie nicht selten, das Recht selbst. Die Klage bezog sich auf Artikel 2 und 8 EMKR. Art. 2 lautet: «Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich ge-schützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, ausser durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.» Und Art. 8: «Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.» Hand aufs Herz, wären Sie je auf die Idee gekommen, dass diese beiden Bestimmungen irgendeine Verpflichtung eines Staates enthalten, eine bestimmte Klimapolitik zu betreiben? Ich auch nicht.
Zur Person: Marcel Niggli ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg.