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Rechtsprofessor Marcel Niggli über Vereinheitlichung

Im Nachgang der Europawahl fragt sich «Anzeiger»-Kolumnist Marcel Niggli, warum es eigentlich so wichtig ist, dass die Handyladekabel weltweit identisch sind – und plädiert für Vielfalt.

| Marcel Niggli | Politik
Marcel Niggli ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg. Foto: zvg
Marcel Niggli ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg. Foto: zvg

Vor Kurzem haben in der EU Wahlen für das Parlament der Europäischen Union stattgefunden. Aus der Schweiz verfolgt man diesen ausnahmsweise demokratischen Aspekt der Gemeinschaft natürlich interessiert. Die Wahl selbst soll uns nicht beschäftigen, obwohl natürlich auch dazu viel zu sagen wäre. Und auch nicht die merkwürdigen Vergleiche, die vor der Wahl angestellt wurden, zum Beispiel des Wählens mit dem Zähneputzen, wie sie in Deutschland kursierten. Es scheint immerhin, dass in Deutschland die infantile Wahlwerbung zusammen mit der Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre den sogenannten «Rechtsruck» zumindest nicht verhindert hat. Und wir lassen auch stehen, dass am Ergebnis nach Vorstellung von Rot-Grün nicht etwa sie selbst schuld sind, sondern – das hört man als Demokrat doch überrascht – die Dummheit der Wähler. Man habe das eigene Programm zu wenig gut erklärt, so die Aussage. Die Möglichkeit, dass die Wählerschaft sehr gut verstanden hat, was angestrebt wird, es aber eben nicht will, scheint ausgeschlossen. Ganz nach dem Muster: Ist die englische Küche wirklich so schlecht, wie man sagt? Antwort: Ja, aber nur wenn sie richtig gekocht wird.

Was aber aufgefallen ist und hier angesprochen werden soll, sind die Argumente, die im Rahmen der Wahlen von verschiedener Seite für die EU vorgebracht wurden, namentlich eines, nach welchem es Fortschritt und Lebenserleichterung für alle sei, wenn die Vielfalt der Handy-Kabel europaweit verschwindet und die Stecker vereinheitlicht werden. Als Schweizer denkt man sich, dass es vielleicht wesentlichere Argumente pro oder contra EU geben könnte, aber sei’s drum. Gehen wir der Sache einmal nach:

Ich bin gegenwärtig in England, genauer gesagt in Cornwall. Und, raten Sie mal – was für eine Schande, was für ein Skandal! – keiner meiner Stecker passt, weder der schweizerische, noch der europäische Einheitsstecker. Nicht einer! Aber wissen Sie was? Das ist überhaupt kein Problem. Ich hatte einen Adapter dabei. Das haben alle, die aus dem Ausland hierher kommen. Sie wissen nämlich, dass im Vereinigten Königreich andere Stecker üblich sind. Das ist ganz ähnlich, wie wenn ich zu Ihnen zu Besuch komme oder Sie zu mir. Mag ja sein, dass das Leben einfacher wird, wenn überall dasselbe gilt. Mag ja sein. Aber wollen wir das wirklich? Die Vereinheitlichung wird uns ja stets als etwas verkauft, das primär uns Verbrauchern dient oder gar nur uns. Aber ganz ehrlich, unter uns Pastorentöchtern, es vereinfacht primär das Leben der Produzenten, die ihr Produkt überall auf der Welt ohne Anpassungen verkaufen können. Nicht dass das schlecht wäre, aber man könnte doch wenigstens ehrlich sein. 

Erinnern Sie sich noch an die Corona-Zeit? Nicht selten haben sich damals Menschen aufgeregt, dass in Bern andere Regeln gegolten haben als in Freiburg. Die Medien sprachen dann jeweils von «Flickenteppich». Warum das denn sein müsse, haben Sie gefragt, und ich habe stets geantwortet: Weil Bern ein anderer Kanton ist als Freiburg. Man kann ja gegen Kantone sein, aber dann sollte man es wenigstens zugeben. Warum sollten in bestimmten Gebieten (Kantonen oder Ländern) andere Regeln gelten als in anderen? Weil bei Ihnen zu Hause andere Regeln gelten als bei mir zu Hause. Warum? Weil Sie dort wohnen und ich eben hier. Müssen die Engländer denn unbedingt Tee trinken? Wäre es nicht einfacher, wenn wir uns alle darauf einigten, dass Kaffee vorzuziehen und dass – Cornwall ist eine Hundegegend – nicht Katzen, sondern Hunde das Haustier der Wahl sei? Natürlich wäre es das, aber ist Ziel des Lebens tatsächlich, einfach zu sein? Um wie viel ärmer wäre die Welt! Vielleicht ist Diversität nicht nur erstrebenswert, wenn es um Hautfarbe oder sexuelle Präferenz geht, sondern auch bei Steckern, Ideen oder gar Lebenshaltungen.

Zur Person: Marcel Niggli ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg.


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