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Alt werden: «Gottseidank müssen wir nicht mehr in diesem engen Korsett leben.»

Laut der emeritierten Psychologieprofessorin Pasqualina Perrig-Chiello hat man es auch in der zweiten Lebenshälfte zum Grossteil selber in der Hand, wie zufrieden man ist. 

| Anina Bundi | Gesellschaft
Prof. em. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello. Foto: zvg
Prof. em. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello. Foto: zvg

Sind Sie alt?

Ich gehöre mit 71 Jahren klar zu den ­Alten. Ich bin eine Seniorin. Aber ich habe mich schon früher nicht übers ­Alter definiert und tue das auch jetzt nicht.

Der Titel Ihres neuen Buches lautet «Own your age». Warum?

Wir wissen aus der Forschung, dass ein gutes Alter zu zwei Dritteln vom Lebensstil abhängt. Der Titel fordert auf, sein Leben, sein Altern in die Hand zu nehmen und nicht die gesellschaftlichen Standards bestimmen zu lassen.

Es geht darin viel um Übergänge, zum Beispiel um die «Midlife-­Crisis». Gibt es Evidenz für eine Krise in der Lebensmitte?

Die Forschung ist sehr vorsichtig mit dem Begriff. Es gibt keine generalisierte Krise der Lebensmitte. Aber es ist eine krisenanfällige Zeit. Das psychische Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit sind im Schnitt am tiefsten. Es ist das Alter mit den meisten Burnouts und Depressionen und es gibt am meisten Scheidungen.

Warum ist dieses Alter so ­herausfordernd?

Es ist eine intensive Zeit mit vielen Veränderungen. Die Wechseljahre wirken sich bei Männern wie Frauen auf Leistungsfähigkeit, Aussehen und Stimmung aus. Und dann sind die meisten in einer Art «Sandwichposition», sie kümmern sich noch um Kinder, übernehmen aber auch zunehmend Verantwortung für die Eltern. Beruflich sind viele auf dem Zenit, aber die Veränderungen bahnen sich an, Junge stossen nach. Das Lebenszeitfenster wird kleiner, viele ziehen eine Lebensbilanz und fragen sich: Was ist aus meinen Träumen geworden? Was ist noch möglich?

Man merkt, es gibt Türen, die sind zu, und man kann nicht mehr alles machen?

Ja, aber die Interpretation ist immer auch eine Frage der Persönlichkeit. Man kann andere Talente entdecken, vielleicht ursprüngliche Wünsche auf eine andere Art verwirklichen.

Und man rutscht langsam aus dem allgemeinen Schönheits­ideal heraus. Ist das für schöne Menschen schwieriger oder einfacher? 

Entscheidend ist weniger, wie schön jemand ist, als wie man sich definiert. Wer sich in erster Linie über das ­Äussere definiert, wird es schwieriger haben. 

Gibt es da einen Unterschied zwischen den Geschlechtern?

Es gibt nachweislich einen «Double standard of ageing». Bei Männern werden Zeichen der Alterung, wie graue Haare, eher positiv als «reif» bewertet, bei Frauen negativ, eben bloss als «alt». Auch im Alter werden sie primär über das Aussehen bewertet, Männer eher über die Funktion. Das ist Sexismus, überlagert von Altersdiskriminierung. Darum: Own your Age. Selbstbestimmt hat man die besseren Karten als fremdbestimmt.

Sie schreiben von einer zunehmenden Privatisierung und Individualisierung und dass man das Ruder an sich reissen soll. Diese Pflicht zur individuellen Entwicklung und Problemlösung kann auch einsam machen.

Einerseits ist die Individualisierung ein Segen. Gottseidank müssen wir nicht mehr in diesem engen Korsett leben wie vor hundert Jahren. Die Kehrseite ist: Wir sind zunehmend gefordert bis überfordert. Übrigens vor allem auch in jungen Jahren.

Der nächste grosse Übergang ist die Pensionierung.

Die Forschung zeigt, dass dieser heute vielfältig ist. Es gibt Leute, die sich neu orientieren: beruflich, ein Studium anfangen, ein Geschäft aufmachen. Dann gibt es jene, die einfach weiterarbeiten wie bisher. Leute mit eigenem Geschäft, aber auch solche, die finanziell mit der Rente nicht über die Runden kommen. Letzteres betrifft oft Frauen. Viele engagieren sich zudem in Freiwilligenarbeit, hüten Enkelkinder und pflegen Angehörige. Alte Menschen haben also nicht nur Reisen und das eigene Wohl im Kopf. All die Aufgaben, die sie übernehmen, sind von grossem Wert, davon profitiert die Gesellschaft extrem.

Früher sprach man vom «Ruhestand». Muss man sich wirklich sein Leben lang optimieren und neu erfinden? 

Es muss niemand irgendetwas. Aber wenn man geistig und körperlich fit bleiben will, kommt man nicht umhin, sich zu entwickeln. Keine Entwicklung bedeutet Stillstand, Langeweile und Unzufriedenheit.

Bei der Gesundheit und der Fitness gibt es grosse Unterschiede, gerade auch im Alter. Sind da eher individuelle oder eher sozioökonomische Faktoren an der Arbeit?

Rund ein Drittel ist genetisch. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen machen etwa 10 bis 20 Prozent aus. Den Löwenanteil hat man aber selber in der Hand. Wichtig ist der Lebensstil, der zwar von der sozioökonomischen Situation mitbestimmt wird, aber vor allem durch Persönlichkeitseigenschaften wie Gewissenhaftigkeit, Offenheit für Neues, emotionale Stabilität und soziale Kompetenz.

Sie selber sind emeritierte Professorin, schreiben aber immer noch Bücher. Haben Sie den Übergang in den Ruhestand verpasst?

Bei mir war es ein gleitender Übergang. Forschung und Lehre, das ist vorbei. Ich bin nicht mehr Professorin und konnte das sehr gut loslassen. Aber es kamen neue Aufgaben auf mich zu, die mir Freude und Erfüllung bringen. Zum Beispiel die Seniorenuni, die ich geleitet habe und wo ich heute Vizepräsidentin bin. Ich bin für meine Familie da, vor allem für mein Enkelkind, für Freunde und Freundinnen, präsidiere verschiedene Vereinigungen. Ich bin da für die, die mich brauchen und dabei ist mir sehr wohl.

Die Frage «Hadern oder akzeptieren» hat eine entscheidende Bedeutung für das Wohlbefinden im hohen Alter. Warum?

Im hohen Alter ist eine der grössten Entwicklungsaufgaben, mit der eigenen Lebensgeschichte ins Reine zu kommen, ja zu sagen zum gelebten Leben. Anderen, vor allem aber sich selber zu vergeben. So findet man den inneren Frieden. Wenn dies nicht gelingt, droht Verzweiflung, nicht loslassen können und oft auch Angst vor dem Tod.

Soll man zurückblicken oder ist es besser, nach vorne zu schauen?

Versöhnlich zurückblicken ja, aber am wichtigsten ist das Hier und Jetzt und dass man hoffnungsvoll vorwärtsschaut. Man hat ein Recht auf Hoffnung bis zum letzten Atemzug. Sie gibt im Leben einen Sinn und einen Grund, jeden Tag motiviert aufzustehen.

Was hilft, wenn man sich nicht mit seiner Biografie versöhnen kann?

Auch im höheren Alter kann eine Psychotherapie helfen, aber meistens genügen niederschwelligere Angebote (siehe unten). Gespräche sind sehr, sehr hilfreich. Sogar bei demenziell erkrankten Personen gibt es dafür Methoden.

Der allerletzte Übergang ist ein Weggang. Wie bereitet man sich aufs Sterben vor?

Gutes Sterben bedeutet für die meisten, in vertrauter Umgebung umsorgt zu sein und informiert über die Vorgänge. Sie wollen versöhnt gehen können und Leute um sich haben, um die grossen letzten Fragen zu besprechen wie «Was kommt nach dem Tod ?».

Wie können wir unsere Eltern und Grosseltern unterstützen, glücklich alt zu werden und zu sein?

Da sein, zuhören, sie am eigenen Leben teilhaben lassen. Auch früh genug diskutieren, wie es sein wird, wenn sie nicht mehr autonom sind. Eventualitäten empathisch, aber offen ansprechen. Den Leuten bis zum letzten Atemzug Hoffnung zugestehen. Und warum nicht: ihnen mein neues Buch schenken (lacht).

Wie unterscheiden sich Männer und Frauen beim Meistern von Übergängen?

Die Herausforderungen sind in etwa die gleichen, der Umgang damit ist unterschiedlich. Frauen haben den Vorteil, dass sie eine Kultur des Redens über Privates und Probleme haben. Viele Männer machen das nicht so gern. Sie schieben die Themen eher vor sich her, bis es nicht mehr geht. Zum Beispiel wenn die Partnerin stirbt: Männer reden kaum über Einsamkeit. Dabei sind sie zum Teil viel einsamer, weil für sie die Partnerin die wichtigste und vielleicht einzige Ansprechperson war. Frauen haben zumeist gute soziale Netze – und die sind ganz, ganz wichtig.

Und wie lautet das Rezept für lebenslanges Liebesglück?

Es gibt kein Rezept und keine Garantie. Aber Tipps, mit denen man die Wahrscheinlichkeit erhöhen kann. Erstens ist eine gute Balance zwischen Gemeinsamkeiten und Abgrenzung wichtig. Es braucht eine gemeinsame Entwicklung und gemeinsame Projekte, aber auch das Eigene, die Individuation, den Freiraum. Zweitens gibt es Charaktereigenschaften, die helfen: Gewissenhaftigkeit, positive Gefühle, Dankbarkeit. Und Vergebungsbereitschaft, weil Fehler passieren nun einmal. Das Schlimmste ist, eine Beziehung als selbstverständlich zu nehmen. Das verleitet zu Nachlässigkeit. Es ist wichtig, dankbar zu sein.

 

Pasqualina Perrig-Chiello

 

Pasqualina Perrig-Chiello ist emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie der Universität Bern. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Entwicklung im mittleren und höheren Lebensalter sowie die Generationenbeziehungen. Im Anzeiger beantwortet sie in unregelmässigen Abständen Fragen zu diesen Themen. Im Februar erschien ihr zweites Buch, «Own your Age! Stark und selbstbestimmt in der zweiten Lebenshälfte». 

 

Wo Hilfe suchen?

 

Informationen zum Thema Lebensrückblick gibt es z. B. unter www.curaviva.ch,  www.andreasweberstiftung.ch und seniorweb.ch. Für die exakten Links schreiben Sie uns unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.


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