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Was, wenn der Schwiegervater dauernd vorbeikommt?
Was tun, wenn der verwitwete Schwiegervater zu oft vorbeikommt? Die emeritierte Psychologieprofessorin Pasqualina Perrig-Chiello gibt Tipps, wie mein Freund Karl trotz Empathie für den Trauernden seine Grenzen verteidigen könnte und erklärt, warum Witwer oft einsamer sind als Witwen und schneller wieder eine neue Beziehung eingehen.
Frau Perrig, mein Freund Karl ist leidenschaftlicher Heimwerker. Seit dem Tod seiner Schwiegermutter kommt der Schwiegervater oft zu Besuch und hilft in Haus und Garten. Er sieht Karl als besten Freund. Karl würde lieber öfter allein werkeln und ist etwas genervt. Wie soll er
mit der Situation umgehen?
An sich ist es positiv, wenn ein Witwer den Kontakt sucht. Männer leiden nach Scheidung oder Tod oft sehr an Einsamkeit, weil sie oft nicht das soziale Netzwerk haben, um darauf zurückzugreifen. Oft war die Partnerin zuständig für alles Emotionale und Soziale, und Männer suchen sich in der Regel auch nicht schnell Hilfe. Hier geht das aber auf Kosten von Karl. Dieser müsste offen sein und das ansprechen.
Wie könnte er das anpacken?
Das kann ein allgemeines Gespräch sein über Tod, Trauer und Einsamkeit. Karl kann sagen, dass er Verständnis hat und den Kontakt und die Freundschaft schätzt. Er muss aber auch seine eigenen Grenzen ansprechen. Er kann auch alternative Möglichkeiten für soziale Kontakte ansprechen wie Trauercafés oder Gesprächsgruppen für
Männer. Männer halten Einsamkeit schlecht aus und gehen darum oft schnell wieder eine Beziehung ein. Gut wäre aber, wenn Karls Schwiegervater eigene Strategien und sinnstiftende Beschäftigungen finden würde.
Soll man dem Wittwer eine Schonfrist geben, bevor man so Sachen anspricht?
In der Psychiatrie spricht man ab sechs Monaten von einer «komplizierten Trauer», wenn man dann immer noch hoffnungslos ist. Ich würde das etwas offener formulieren. Das erste Jahr ist meistens schwierig. Im zweiten sollte es schon etwas flotter gehen. Aber nach einem halben Jahr kann man solche Themen schon ansprechen und über Möglichkeiten reden, wie man aus der Trauer herauskommen könnte. Wie es dem Mann konkret geht, kann ich auf Distanz natürlich nicht sagen. Aber da er den Kontakt so intensiv sucht, kann es schon sein, dass er Hilfe braucht.
Verwitwete leiden zumeist an emotionaler Einsamkeit, sie vermissen schmerzhaft die verlorene andere Hälfte. Es entsteht ein Vakuum, das andere nicht füllen können. Wenn noch die soziale Einsamkeit dazu kommt, nämlich das Fehlen von Angehörigen oder Freunden, verschlimmert sich die Trauer.
Was hilft bei emotionaler Einsamkeit?
Trauern als einen normalen Prozess annehmen, wobei sich nicht alles nur um das Verlorene drehen sollte, sondern auch um das Finden neuer Perspektiven. Hilfreich, um sich nicht in negativen Gedanken zu verlieren, sind erwiesenermassen neue Aufgaben, etwa Freiwilligenarbeit.
Welche Aufgabe kommt dem Schwiegersohn in dieser Situation zu?
Unabhängig von der Beziehung sind Gespräche mit seinem Schwiegervater wohl unumgänglich. Dabei muss er Empathie zeigen und sich gleichzeitig abgrenzen.
Soll Karl seine Frau einbeziehen? Sie ist ja selbst noch in Trauer um ihre Mutter.
Wenn sie eine normale und gute Beziehung haben, soll er es trotz Empathie unbedingt ansprechen. Und zwar in der «Ich-Form». Also: «Ich empfinde es zunehmend als Belastung, dass Dein Vater so viel bei mir ist.» Auch in diesem Gespräch kann er das Positive hervorheben. An seine Frau abschieben sollte er sein Problem aber nicht. Das Gespräch mit dem Schwiegervater sollte er selbst führen.
Soll er den Schwiegervater ermutigen, sich bald wieder nach einer neuen Partnerin umzusehen?
Das würde ich nicht machen. Da muss er selber draufkommen. Partnerinnen von frisch verwitweten oder geschiedenen Männern merken auch schnell einmal, ob sie für den Mann bloss ein Ersatz sind. Karls Schwiegervater sollte sich zuerst einmal selber neu definieren, als alleinstehende Person mit einer neuen Identität und neuen sozialen Rollen. Das kann eine neue Bekanntschaft sein, aber auch ein gewolltes Alleinleben.
Gibt es eine Altersgrenze, wann es schwierig wird, sich neu zu definieren?
Nein, das gibt es nicht. Das hängt auch von der jeweiligen Persönlichkeit ab. Aber je länger eine Beziehung gedauert hat und je älter die trauernde Person ist, umso schwieriger wird es.
Gilt das auch für eine neue Beziehung?
Ja. Eine Altersgrenze gibt es nicht, aber man entwickelt mit der Zeit eigene Mödeli, die es schwieriger machen. Frauen sind im Alter oft wählerisch und bleiben im Zweifelsfall lieber allein. Männer sind es aus besagten Gründen weniger.
Pasqualina Perrig-Chiello ist emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie der Universität Bern. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Entwicklung im mittleren und höheren Lebensalter sowie die Generationenbeziehungen. Nach ihrem erfolgreichen Buch «Wenn die Liebe nicht mehr jung ist – Warum viele langjährige Partnerschaften zerbrechen und andere nicht» erscheint Im Februar 2024 «Own your Age! Stark und selbstbestimmt in der zweiten Lebenshälfte».