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Zwei Berner zwischen Reportage und Abenteuer

Der Journalist Florian Wüstholz und der Fotograf Martin Bichsel fuhren mit dem Velo 4170 Kilometer von Bern nach Sinop in der Türkei, Bichsel bis in den Iran. In ihrem Reportagenbuch «Hoffen bleibt erlaubt» erzählen sie Geschichten von Umweltzerstörung und Katastrophen, aber auch von Menschen, die sich gegen Verschmutzung und für das Klima einsetzen.

| Anina Bundi | Gesellschaft
Florian Wüstholz (links) und Martin Bichsel auf dem Simplon. Foto: Martin Bichsel

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie gerne leiden, wenn Sie einen Sinn darin sehen. Was heisst das genau?

Florian Wüstholz: In unserem unkonventionellen Journalismusprojekt war es nicht einfach, an Geschichten zu kommen. Anstatt in den Flieger zu sitzen, sind wir mit unserer Muskelkraft zu ihnen gelangt. Ich denke, dadurch sind wir den Leuten anders begegnet. Und sie uns. Damit hatte unser Leiden einen Sinn. Auch beim Sport sehe ich einen Sinn im Leiden, weil ich meine Grenzen erleben kann.

Wie oft haben Sie geweint auf Ihrer Reise?

F.W.: Ich glaube, geweint habe ich nie. Es gab Situationen, in denen wir mit Geschichten konfrontiert waren, die mir sehr nahe gingen. Zum Beispiel auf der Insel Euböa in Griechenland, wo Leute 2021 durch Waldbrände alles verloren haben. Oder in der Kleinstadt Bozkurt in der Türkei, die überschwemmt wurde. Da waren wir mit einem Dolmetscher unterwegs, und der sagt plötzlich: «Schau, da kommt der Sohn des Mannes, der in diesem Haus gestorben ist.» Ich hätte es unpassend gefunden in dem Moment zu weinen, aber spurlos geht das nicht an einem vorüber. Nahe am Weinen war ich, wenn es physisch hart war, wenn wir Gegenwind hatten oder stundenlang durch den Schlamm waten mussten.
Martin Bichsel: Oder wenn uns ein Lastwagen zu nahe kam. Dann hätte ich aber eher aus Wut geweint. Oder aus Angst.

In Ihrem Buch gibt es viel Selbstreflexion, viel «Ich» und «Wir». Das ist im Journalismus eher verpönt. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

F.W.: Ja. Das ist heutzutage eher unerwünscht und wird mir von den Redaktionen oft aus Texten herausgestrichen. Aber dieses Projekt hier war so physisch, und viele Erlebnisse so persönlich, dass es komisch gewesen wäre, das auszublenden. Wir haben unsere Reise ja auch teilweise durch Spenden finanziert und wollten die Leute so auf die Reise mitnehmen.

Sie reflektieren auch Ihre Motivation und stellen die Frage, ob Ihr Projekt «Journalismus ist oder ein Ego-Trip mit journalistischem Mäntelchen». Haben Sie die Frage inzwischen geklärt?

M.B.: Wir sind in einem Zwischenraum. Es gibt vielleicht keine Antwort auf die Frage. Wenn man an einen Ort hinfliegt und nach der Arbeit wieder zurück, ist man weniger abgelenkt, es ist einfacher, den Journalismus in den Vordergrund zu setzen. Mit dem Velo unterwegs zu sein, ist an sich schon ein Abenteuer und nimmt drei Viertel des Raums ein. Das ist der Alltag, und dann kommt der Journalismus noch dazu. Es bleibt eine Ambivalenz, man kann es nicht ganz trennen.

F.W.: Man muss schauen, wo schlafen, Wasser und Essen besorgen, das Wetter beobachten. Dadurch, dass wir Umwege gefahren sind, um Leute zu treffen, wurde es noch komplizierter. Also anstrengender als andere Reportagen, aber auch anstrengender als eine Reise nur zum Geniessen. Wir hatten aber von Anfang an den Anspruch, etwas anderes zu machen als Reisejournalismus. Es sollte etwas anderes sein als ein Abenteuer von zwei Männern aus dem «Westen».

Sie wollten von Bern bis in die Mongolei fahren. Wie sind Sie beim Planen der Route und der Reportagen vorgegangen?

M.B.: Wir hatten eine virtuelle Karte mit einer groben Route. Dann haben wir über diese Länder recherchiert und entlang der Route Eckpunkte eingetragen. Zum Teil gingen wir nach Plan vor, anderes kam unterwegs dazu. Manchmal haben wir auch ganz spontan entschieden. Zum Beispiel als ich im Iran die Gletscher am Sabalan besichtigen konnte. Oder das zerstörerische Aluminiumwerk in Podgorica war auch der Tipp einer Wissenschaftlerin vor Ort. Es war eine rollende Planung.

Der Plan hat so nicht geklappt. Florian Wüstholz hat die Tour in der Türkei abgebrochen. Martin Bichsel fuhr allein weiter, kam aber nicht bis in die Mongolei, sondern nur bis in den Iran. Was ist passiert?

F.W.: Hauptgrund war der Krieg in der Ukraine, der viel umgewälzt hat. Zum einen wäre es uns gar nicht mehr möglich gewesen, von der Mongolei auf dem Landweg wieder heimzureisen, weil die Route durch Russland ging. Zum anderen ging es mir in dieser Zeit psychisch nicht sehr gut. Ich konnte mich nicht mehr fürs Velofahren motivieren. Irgendwann habe ich dann entschieden, dass ich nach Hause fahre.

Wie war es für Sie, Martin Bichsel, allein weiterzureisen?

M.B.: Zuerst habe ich vorgeschlagen, die Route anzupassen. Aber das kam für Dich, Florian, schon nicht mehr in Frage. Als ich dann mein Visum bekommen habe für den Iran, habe ich gemerkt, dass ich schon sehr Lust habe darauf. Ich bin es gewohnt, allein zu reisen. Die Frage war dann, wie ich allein journalistisch weiterarbeite. Da hat Florian von zu Hause Schützen­hilfe gegeben und meine Erzählungen, Notizen und aufgenommenen Interviews in eine schöne Form gebracht. Wir haben viel kommuniziert und er hat auch weiter Kontakte recherchiert für mich.

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Auf der griechischen Insel Euböa brannten im Sommer 2021 50000 Hektaren Wald. Foto: Martin Bichsel

 

Welche Bilder dieser Reise blieben am meisten hängen?

F.W.: Das war wohl schon die Insel Euböa, die verbrannten Bäume überall, Bauern, die ihre Lebensgrundlage verloren haben. Das zu sehen und zu wissen, dass sich in den nächsten 30 Jahren nicht viel an der Situation ändern wird.

M.B.: Bei mir ist es der Iran. Ein ganz neues Land, eine neue Kultur, die beeindruckende Gastfreundschaft.F.W.: Die Etappe zwischen Istanbul und Sinop war auch sehr intensiv. Wir sind der Küste entlang gefahren und hatten auf der Strasse teils bis zu 30 cm Neuschnee. Und es waren unsere letzte Tage zusammen.

Und welche Gerüche haben Sie noch in der Nase?

F.W.: Den Schwefelgeruch der Kohlekraftwerke. Überall wo es Kohlekraftwerke gibt, ist die Luft ganz schlecht.

M.B.: Der Feinstaub der Holz- und Kohleöfen in den Wohnhäusern.

Haben Sie auf Ihrer Reise etwas gelernt, das Euch überrascht hat?

F.W.: Die Plastikverschmutzung des Flusses Neretva in Bosnien und Herzegowina hat mich irritiert. Dass sie so augenscheinlich ist. Ich habe schon viel gelesen über das Thema, man weiss vom «Pacific Garbage Patch», der Insel aus Plastikmüll im Pazifischen Ozean …

M.B.: Ja, es selber zu sehen macht nochmal etwas mit einem. Wir sind schon ziemlich auf Umweltthemen eingeschossen. Da ist es schwer, uns zu überraschen.

Hoffnung ist immer wieder Thema in Ihrem Buch und gibt ihm auch den Titel. Wie steht es um Ihre Hoffnung?

F.W.: Gerade gestern habe ich gedacht, dass alles nichts bringt, wenn Leute aus dem nächsten Umfeld mit dem Flugzeug in die Ferien fahren. Aber im Buch geht es ja viel um Leute, die sich für eine bessere Welt einsetzen und zwar aus einer weniger privilegierten Situation heraus als wir. Das gibt mir immer wieder Hoffnung.

M.B.: Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Es gibt Dinge, wo wir wissenschaftlich wissen, dass die Situation schlecht ist: Gewisse Kipppunkte sind schon fast erreicht, die Obergrenze von 1,5 Grad Erwärmung ebenso. Aber zu sehen, wie viele Leute es gibt, die versuchen, trotzdem etwas zu machen, gibt wiederum Hoffnung. Auf der psychologischen Ebene ist es so: Wenn ich sage, ich habe keine Hoffnung, kann ich ja gleich aufgeben. Und darauf habe ich keinen Bock.

 

«Hoffen bleibt erlaubt – Klimareportagen aus dem Sattel»
Florian Wüstholz und Martin Bichsel
Buch bestellen unter www.hoffenbleibterlaubt.ch


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