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Was taugt Berns neue Vorzeigesiedlung?
Auf dem ehemaligen Warmbächli-Areal bauten sechs Genossenschaften je ein Gebäude.
Der «Anzeiger» nahm mit Architekturprofessor Stanislas Zimmermann die Siedlung Holliger unter die Lupe.
Auf dem neuen Holligerplatz im Stadtteil Mattenhof-Weissenbühl, einst von drei rauchenden Kaminen der Kehrichtverbrennungsanlage geprägt, herrscht heute eine entspannte Atmosphäre. Eltern spazieren mit ihren Kinderwagen, während Laufräder fröhlich um sie herumwirbeln. Die überhohe Arkade des angrenzenden, leicht abgeschrägten Stadthauses mit seiner Backsteinfassade bietet einer jungen Gruppe den perfekten Ort, um die Wintersonne bei einer Tasse Cappuccino vom örtlichen Bistro Trallala zu geniessen.
Die frisch erbaute Siedlung Holliger hat den Alltag eingefangen; die meisten Bauarbeiten auf dem Areal sind mittlerweile abgeschlossen. Dieser Zeitpunkt ist ideal für einen gemeinsamen Erkundungsspaziergang mit Stanislas Zimmermann, Architekturprofessor an der Berner Fachhochschule. Denn uns interessiert: Ist das, was die Stadt Bern in langjähriger Zusammenarbeit mit Stadtplanern, Architekten und sechs gemeinnützigen Wohnbauträgern geplant hat, nun auch Wirklichkeit geworden?
Lebendiges Quartier
Als Stanislas Zimmermann, der neben seiner Lehrtätigkeit auch ein eigenes Architekturbüro führt, aus dem 12er-Bus steigt, wirkt er zunächst überrascht, dass dieser erst einige Meter von der prominenten Adresse entfernt stoppt. Doch schon auf dem kurzen Weg zum neuen Quartierplatz wird für ihn deutlich: Die Siedlung Holliger hat das umliegende Gebiet aufgewertet, und hier, in unmittelbarer Nähe des Inselspitals und neben dem Fussballplatz des SC Holligen, ist ein lebendiges Zentrum entstanden.
Diese Einschätzung des unvoreingenommenen Experten dürfte beim Berner Gemeinderat auf Zustimmung stossen, denn «Bern lebt in Quartieren» ist eines der zentralen Handlungsfelder ihres jüngsten Stadtentwicklungskonzepts. In den verschiedenen Nachbarschaften sollen die Bewohner näher zusammenrücken und ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl entwickeln. Und so nähern sich auch die rund 900 Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung Holliger Tag für Tag einander an. Die entstandene Nachbarschaft – eine Collage aus verschiedenen Genossenschaftsbauten – steht nun vor der gemeinsamen Herausforderung, ihre Identität zu formen.
Architekt Zimmermann sieht diesen bevorstehenden Aneignungsprozess als besonders wichtig: «Nur durch aktive Teilnahme kann das geplante Quartierkonzept mit seiner Vision eines gemeinschaftlichen Miteinanders auch langfristig Erfolg haben.» Während er den Weg entlang durch den Hof geht, der von den verschiedenen Genossenschaftsbauten umfriedet und vom Stadtbach durchflossen wird, wächst seine Zuversicht Schritt für Schritt: «Der Hof bietet ausreichend Flächen und spezifische Orte, die nur noch darauf warten, von den Anwohnenden in Besitz genommen und gestaltet zu werden.» Gleichzeitig betont Zimmermann auch die geschickte Begrenzung des Raums, die sicherstellt, dass sich das gemeinsame Leben nicht zersplittert und das Miteinander somit erhalten bleibt.
Unausweichliches Miteinander
Auf der südlichen Seite dieses Innenhofs, zwischen dem Generationenwohnen der Baugenossenschaft Brünnen-Eichholz und dem silbrig glänzenden Wohngebäude der Baugenossenschaft Aare Bern, das vorwiegend Wohnungen für Familien mit Kindern beherbergt, ragt das Haus Stromboli empor. Hier sind die letzten Mieter gerade dabei, Zügelkisten in ihre Wohnungen zu schleppen und die Möbel an Ort und Stelle zu rücken.
Der Berner Architekturprofessor betrachtet das Gebäude der «npg AG für nachhaltiges Bauen», entworfen von den Architekten des Studio DIA, als besonders exemplarisch für das gesamte Quartierprojekt. Das gelbe, freitragende Stahlgerüst, das die gesamte sonnige Südfassade des Langbaus einnimmt, fungiert als «Terrasse commune»: Auf engstem Raum gestaltet, dient dieser Laubengang sowohl als Zugang zu den einzelnen Haustüren wie auch als Balkonfläche der Wohnungen. «Hier entsteht automatisch Dialog, das begehbare Gerüst wird unweigerlich zum Begegnungsort», sagt Stanislas Zimmermann. Die Idee sei «gelungen», aber dennoch ist für ihn klar: Mit dieser architektonischen Entscheidung gingen die Planenden auch ein gewisses Wagnis ein. Wer hier wohne, müsse auch akzeptieren, dass die gesamte Nachbarschaft zu jeder Tageszeit direkt vor der eigenen Wohnküche vorbeigehe. Doch Zimmermann relativiert auch gleich: «In einer derart begehrten Wohngegend zu genossenschaftlichen Mietzinsen kann man einen solch mutigen Schritt sicher wagen; es wird nie schwerfallen, Interessierte für freie Wohnungen zu finden.» Und schliesslich würde die «Terrasse commune» das Vorhaben der gesamten Überbauung weiter fördern: nämlich einen Ort zum Wohnen für all jene zu schaffen, die sich nebst einem neuen, wohnlichen Zuhause auch eine gelebte Nachbarschaft wünschen.
Nachahmung erwünscht
All diese urbanen Neubauten der Siedlung Holliger mit ihren flexiblen Wohnungstypen und -grössen sowie dem vordefinierten Sockel, der nicht nur Wohnraum, sondern auch Platz für Gewerbe, Ateliers und Gemeinschaftseinrichtungen bietet, sind ein Leuchtturmprojekt für die Stadt Bern. Laut Stanislas Zimmermann üben sie somit künftig zweifellos Druck auf die umliegenden Parzellen aus: «Ein derartiges Neubauquartier sorgt automatisch auch für eine Art Gentrifizierung.» Doch Stanislas Zimmermann hofft, dass künftige benachbarte Projekte sich von der gelungenen Siedlung Holliger inspirieren lassen. «Denn die genossenschaftlichen Organisation der einzelnen Baufelder sorgt dafür, dass die Mieten trotz der Attraktivität nicht ins Unermessliche steigen – und das durchmischte Miteinander noch lange genossen werden kann.»