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«Wir möchten unseren Teil zur Stärkung der Demokratie beitragen»
Christof Ramseier, der Verleger des «Anzeigers Region Bern», nimmt erstmals ausführlich Stellung zur Vergangenheit und Zukunft «seiner» Zeitung.
Herr Ramseier, Sie investieren Geld in den Journalismus, während andere Verlage Journalistinnen und Journalisten entlassen. Sind Sie eigentlich wahnsinnig?
Das wurde ich in den letzten Monaten oft gefragt. Ein bisschen Wahnsinn gehört wahrscheinlich tatsächlich dazu. Aber ich bin auch überzeugt, dass es funktionieren kann. Nicht zuletzt durch den Zusammenschluss von «Bund» und «Berner Zeitung» entstand eine Lücke auf dem Medienplatz Bern. Die Nachfrage nach einem Berner Medium, das breit über die Region berichtet, ist vorhanden.
Wie wollen Sie die Zeitung – neben Inserateeinnahmen – finanzieren?
Dies wird nur möglich sein mit Unterstützungsbeiträgen von Stiftungen, Unternehmen, Privatpersonen, also Gönnerinnen und Gönnern, und natürlich den Aboeinnahmen.
Das heisst, es besteht ein beachtliches finanzielles Risiko. Wieso gehen Sie das ein?
Es geht um Meinungsbildung, es geht um Arbeitsplätze, es geht um die Region Bern, und es geht um unsere Gesellschaft. Wenn ich die Entwicklung der letzten Jahre betrachte, so habe ich kein gutes Gefühl. Es fehlt uns heute nicht an Informationen, aber es fehlt uns an Wissen. Diese beiden Komponenten dürfen nicht verwechselt werden. Handlungen, die auf Informationen basieren, sind anders als Handlungen, die auf Wissen basieren. Wir können die grossen Herausforderungen nur gemeinsam lösen. Spaltung und Unvereinbarkeit führen definitiv nicht zum Ziel. Wir brauchen die Diskussion in den Medien. Es geht aber auch um unsere Demokratie. Diese ist nicht selbstverständlich. Sie ist wie eine Pflanze, welche ohne genügende Pflege eingeht. Demokratie muss belebt und gelebt werden. Wir möchten unseren Teil zur Stärkung jener beitragen.
Der Fokus des «Anzeigers» liegt auf der gedruckten Ausgabe. Die meisten Zeitungen fokussieren aber auf die Onlineausgabe. Was sind die Überlegungen?
Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass gedruckte Informationen im Hirn besser verarbeitet werden als digital gelesene. Wenn ich eine Zeitung durchblättere, ist die Chance sehr gross, auf etwas Unbekanntes zu stossen. Es braucht somit beides, und die Menschen sollen die Wahl haben, sich je nach Situation für die eine oder andere Variante zu entscheiden.
Die Website ist gratis für alle zugänglich. Was für Pläne haben Sie damit?
Sie ist weiterhin gratis zugänglich. Ab 2024 braucht es eine Registrierung, um weiterhin alles sehen zu können.
Die amtlichen Publikationen fallen ab Januar weg. Was sind die Hintergründe?
Politiker in einzelnen Gemeinden haben mit der Digitalisierung des Amtsblatts des Kantons Bern auf Anfang 2020 die Möglichkeit festgestellt, dass sie sich unliebsamer Kosten entledigen können, wenn die Anzeiger auch digitalisiert werden. Es ist zwar nicht so schnell gelungen, wie sie sich dies vorgestellt haben, dennoch waren sie am Schluss erfolgreich. Fakt ist, dass für alle nur die Kosten im Vordergrund standen. Von einem Nutzen der amtlichen Anzeiger war nie die Rede, und es hat auch niemanden interessiert.
Was ist denn Ihrer Meinung nach der Nutzen des «Anzeigers»?
Seit etwa die amtlichen Mitteilungen des Kantons Bern nicht mehr im gedruckten Amtsblatt zu finden sind, hat die Aufmerksamkeit massiv abgenommen. Verschiedene kleinere und grössere Gemeinden in der Schweiz haben das Gleiche erlebt. Die reine Digitalisierung ist also eigentlich eine Entdemokratisierung, weil man den Menschen vorschreibt, wie sie sich zu verhalten haben, wenn sie an demokratischen Prozessen teilnehmen wollen. Es geht auch nicht nur um jene Personen, welche den Zugang zur digitalen Welt nicht in der heute üblichen Form haben.
Sondern?
Es ist eine Frage der Bevormundung, weil die meisten Gemeinden nicht die Bevölkerung gefragt, sondern in den Gemeinderäten entschieden haben, wie die Bevölkerung die Informationen zu konsumieren hat. Zudem wurde bei den Abstimmungen nur gesagt «wir können viel Geld sparen». Es wurde nie die Frage gestellt, ob die Gemeinden die Vereine und die Wirtschaft mit
einem anderen Konzept in den «Anzeiger» einbinden und diesen damit
attraktiver machen sollen oder nicht.
Fakt ist, der «Anzeiger» verursachte Kosten, welche die Gemeinden mit einer digitalen Lösung einsparen können.
Der «Anzeiger» hat mehr als nur die Aufgabe, amtliche Meldungen zu transportieren. Der Grundgedanke des «Anzeigers Region Bern» war, dass mehr Austausch, mehr Miteinander zwischen den Gemeinden möglich sein soll, um damit den regionalen Gedanken und Zusammenhalt zu stärken. Leider war es ein Gedanke, der nur so lange gelebt wurde, bis das Geld aufgebraucht war. Dann spielten der Zusammenhalt und das Miteinander keine Rolle mehr. Ausserdem hätte man meines Erachtens die finanziell schwierige Situation verhindern können, wenn man nur einen Teil der Millionengewinne, die der «Anzeiger» den Gemeinden bis 2011 bescherte, in die Weiterentwicklung des «Anzeigers» investiert hätte. Also ja, der Entscheid ist nachvollziehbar, aber nur, wenn man die Geschichte nicht kennt.
Überall im Kanton funktionieren die amtlichen Anzeiger. Wieso ausgerechnet in der Region Bern nicht?
In der Region Bern wurde 2001 mit dem Zusammenschluss des «Stadtanzeigers Bern» und des «Anzeigers rund um Bern» mit 150 000 Exemplaren der grösste Anzeiger des Kantons Bern geschaffen. Weil die «Berner Zeitung» den Auftrag für die Herstellung damals an den Bund-Verlag verloren hatte, begann ab 2001 ein beispielloser Konkurrenzkampf um Inserate. Millionen wurden in Rabatte investiert, um dem «Anzeiger Region Bern» zu schaden. Mit der Übernahme des «Bund» durch die «Berner Zeitung» hat sich die Situation nicht verbessert. Aus diesem Grund konnte der «Anzeiger» am Markt nie die Preise erzielen, welche er für diese Auflage gebraucht hätte. Dieser Konkurrenzkampf, welcher fast 20 Jahre andauerte, hat nicht nur dem «Anzeiger», sondern dem gesamten Medienplatz enorm geschadet. In keiner anderen Region des Kantons Bern hat es etwas Vergleichbares gegeben.
Das mag sein. Aber die Zeit der amtlichen Anzeiger hat sich auch irgendwie überlebt.
Ganz und gar nicht. Heute ist die Verbundenheit der Gesellschaft wichtiger denn je. Die amtlichen Anzeiger sind die einzigen regelmässigen und zuverlässigen Brücken zur Bevölkerung. Wenn ich die Veränderung in der Gesellschaft in den letzten 20 Jahren sehe, wie wir miteinander umgehen, wie klein die Toleranz und das Verständnis untereinander geworden sind, und wie viel wir miteinander reden, aber wie wenig wir einander zuhören, denke ich wirklich, dass wir aufpassen müssen, uns nicht selbst zu verlieren. Es braucht verlässliche Informationen, es braucht einen regen und intensiven Austausch zwischen den Gemeinden und der Bevölkerung. Eine Website ist zwingend, aber nicht das Allheilmittel. Wenn in der Gemeinde die Gemeinschaft nicht funktioniert, dann braucht es diese Gemeinde nicht mehr. Es hat in der Vergangenheit viele starke Persönlichkeiten gegeben, welche den regionalen Zusammenhalt hochgehalten, welche die unterschiedlichen Meinungen in den Regionen und den städtischen Gebieten verstanden und versucht haben, Kompromisse zu finden. Diese Persönlichkeiten sind heute Mangelware.
Die Gemeinde Stettlen nutzt den «Anzeiger» noch für amtliche Publikationen. Zeigen noch andere Gemeinden Interesse?
Es gab mehrere Gemeinden, die sich dafür interessierten, die sich vorerst aber dagegen aussprachen. Wir sind natürlich weiterhin offen, amtliche und nicht-amtliche Meldungen von Gemeinden in unserem Verteilgebiet zu publizieren. Damit würden die Gemeinden ihrer Bevölkerung auch den unkomplizierten Zugang zu den redaktionellen Inhalten ermöglichen und etwas zum Gemeinschaftsleben in ihren Gemeinden beitragen.
Neben den amtlichen Publikationen wird auch die «Kulturagenda»
nicht mehr dem «Anzeiger» beigelegt. Wieso nicht?
Die «Berner Kulturagenda» im «Anzeiger Region Bern» ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte. 17 Jahre konnten die Kulturinstitutionen sich ihrer Aufgabe, also der Kulturvermittlung widmen, ohne sich um die Herausgabe der «Kulturagenda» oder allfällige Defizite kümmern zu müssen. Leider war aufgrund der Digitalisierung lange nicht klar, ob es ein Nachfolgeprodukt des «Anzeigers» geben würde oder nicht. Der neue Vorstand der «Berner Kulturagenda» hat sehr schnell entschieden, dass er die Zusammenarbeit mit dem «Anzeiger Region Bern» beenden will. Wir hätten uns über eine Weiterführung der Zusammenarbeit gefreut.
Ab Januar wird der «Anzeiger» nur noch an Haushalte geschickt, die Werbung erlauben. Wieso werden nicht mehr alle bedient?
Die Post hat uns bereits zu Beginn, als wir das Projekt vorgestellt haben, die Möglichkeit gegeben, alle Haushaltungen zu bedienen. Dies würde jedoch so hohe Kosten nach sich ziehen, dass dies mit dem vorgesehenen Konzept nie hätte finanziert werden können. Das bedauern wir sehr.
Viele Leser rieten uns, einen «Anzeiger erlaubt»-Kleber zu verschicken. Das tönt nach einer guten Idee.
Ja, das ist eine gute Idee, müsste aber von der Post umgesetzt werden. Dies ist aber nicht möglich und wurde uns so von den Verantwortlichen bei der Post kommuniziert.
Wie kann man den «Anzeiger» unterstützen?
Es gibt drei Möglichkeiten. Die erste ist ein Abonnement zu lösen, was telefonisch, per E-Mail oder über die Website gemacht werden kann. Die zweite ist die Berücksichtigung des «Anzeigers Region Bern» als Werbemittel mit Inseraten, digitalen Inseraten oder einer Kombination der beiden. Die dritte Möglichkeit ist, einen Unterstützungsbeitrag zu leisten oder bei Interesse als Partner dabei zu sein und sich mit mir in Verbindung zu setzen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Dass wir den «Anzeiger» in eine Stiftung einbringen können, welche die Berner Medienlandschaft stärken will, und wir damit die unabhängige Meinungsbildung ermöglichen. Deshalb sind wir offen, wenn es Menschen oder Institutionen gibt, die diese Meinung teilen, und würden uns über Interessensbekundungen freuen.