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Von fliegenden Autos, Stettler Bundesräten und Popcorn

Jeden Mittwoch wird die untere Kirchgasse in Stettlen zur Jugendzone. Doch was beschäftigt die jungen Stettlerinnen und Stettler? 

| Sophie Feuz | Gesellschaft
Von links: Eliana, Zoe, Iria, Larissa, Julie, Lynn und Elias in der «Jugendzone». Foto: Sophie Feuz
Von links: Eliana, Zoe, Iria, Larissa, Julie, Lynn und Elias in der «Jugendzone». Foto: Sophie Feuz

Es ist einer der ersten Frühlingstage, neben dem Eingang des Jugendtreffs liegen Jacken, Pullover und Mäntel auf einem Haufen. Auf dem Strässchen vor dem Stettler Treff üben Teenager Skaten. Doch der Geruch von Popcorn lockt ins Innere. Jugendliche zwischen zehn und fünfzehn versammeln sich um die grosse Popcornmaschine. Unentwegt poppen Maiskörner auf. Vorsichtig werden sie abgefüllt und verteilt, bis alle ein Säckchen in der Hand halten. Auf einer improvisierten Bartheke im Nebenraum bedienen unterdessen zwei Jungen eine Teigmaschine: Später wird es Pancakes geben. 

Einige Minuten vom Bahnhof Stettlen entfernt haben Jugendliche das Sagen. Die untere Kirchgasse wird mittwochnachmittags jeweils zur «Jugendzone». Sie erstreckt sich vom Jugendtreff der reformierten Kirche bis zum «Hüsli» der Offenen Kinder- und Jugendarbeit Ostermundigen, Stettlen (Okja). Heute verbringen um die zwanzig Jugendliche ihren Nachmittag in der Jugendzone. Aktuell beschränkt sie sich auf den Treff im Untergeschoss des Kirchgemeindehauses, denn das ursprüngliche Bahnwärterhaus der Okja wird gerade neu eingerichtet. Im Obergeschoss statten die zwei Jugendarbeitenden das Filmzimmer mit echten Kinositzen aus, unten zügeln sie ihr Büro in eine ehemalige Abstellkammer. Die Jugendlichen sollen so mehr Platz erhalten.

«Am liebsten bastle ich oben im Hüsli oder spiele draussen Basketball», erklärt Ajana. Sie ist zwölf und kommt fast jede Woche in den Treff. Auch Zoe (11), Julie (10) und Larissa (10) basteln am liebsten. Rafael (11) hingegen übt lieber Wakeboard, eine Art Skateboard, auf der Strasse vor dem Treff. Jetzt sitzen sie in der Sonne, in ihrer Mitte eine Schüssel Popcorn. 

Kaum hat das Gespräch begonnen, serviert Iria Getränke. Die 12-Jährige mit der Disneyfigur auf dem T-Shirt hilft freiwillig hinter der Bar, wo sie aus verschiedenen Sirups Drinks mischt. Wenn sie Pause macht, fordert sie gerne andere am «Töggelikasten» heraus.  

Fische und Weltkrieg

Was beschäftigt die Jugendlichen in Stettlen? Unmittelbar auf die Frage erwähnen Zoe und Ajana den Klimawandel und Tierausrottung. Andere pflichten ihnen bei. Rafael ergänzt, dass er sich besonders Sorgen um die Fische macht, die in Wasserturbinen umkommen. Er ist leidenschaftlicher Fischer und findet es schade, dass da nichts getan wird. 

Ernstes Nicken geht durch die Runde. Larissa verrät, dass sie sich oft überlegt, wann der Dritte Weltkrieg kommt, und ob die Schweiz da dazugehören würde. «Wenn’s einen Weltkrieg gibt, dann ist Russland daran schuld», sagt eine Jugendliche, die vorher gerade noch meinte, dass sie sich meistens nur mit ihrer aktuellen Netflix-Serie beschäftigt. Gerade der Krieg in der Ukraine geht vielen Jugendlichen nahe. Sie erzählen von geflüchteten Mitschülerinnen und Mitschülern, die nicht zurück können oder immer noch auf Verwandte warten. 

Da überrascht es, dass auf die Frage, ob sie sich denn für Politik interessieren, vehement der Kopf geschüttelt wird. Jemand fragt die Sitznachbarin flüsternd, was das überhaupt sei. «Das ist doch, wenn Stettlen einen neuen Bundesrat kriegt oder so.» Reihum wird gegrinst und bloss mit den Schultern gezuckt. 

Die Jugendlichen sind sich einig, dass sie fast nie Ungerechtigkeit erfahren. Vielleicht werden manchmal zu Hause die jüngeren Geschwister bevorzugt, oder die Jungs in der Schule strenger behandelt. Aber das sei ja normal. Wieder Schulterzucken.

Keine Höhenflüge… 

Auf der Strasse verliert ein Wakeboard-Fahrer das Gleichgewicht. Das Board schlittert über den Teer. «Nüt passiert!», rappelt sich der Verunfallte auf, und erklärt, dass es hier einfach eine schwierige Stelle sei. 

Die Jugendlichen, die in einem Kreis in der Sonne sitzen, sind bodenständig – oder ernüchtert? Nur zwei träumen davon, Schauspielerin und Tennisspielerin zu sein. Die restlichen Traumberufe sind: Tierärztin, Klimaschützerin, Kindergärtnerin, Innendekorateurin, Betreuerin, Konditorin und Zimmermann. Wo bleibt da der jugendliche Übermut?

Selbst mit einer hypothetischen Lotto-Million würde verantwortungsvoll umgegangen werden. Einen Teil an die Eltern, einen Teil auf die Seite – aber möglichst viel spenden an Klimaschutz, Tierheime oder an Menschen auf der Strasse. 

Die meisten Jugendlichen freuen sich jetzt schon auf ihren 18. Geburtstag. Da dürfe man endlich Autofahren und selbst über sich entscheiden. Von zu Hause ausziehen? Das kann noch warten! Das wolle man erst später, wenn man nicht mehr den ganzen Tag unterwegs sei, sonst mache es ja keinen Sinn. Eine Fünftklässlerin erklärt, dass sie sich darauf freut, irgendeinmal ein dreijähriges Kind zu haben, weil dann sind sie am herzigsten. Eine Klassenkameradin widerspricht, dass sie die Zeit ohne mühsame Kinder noch lange geniessen will.

Pancakes und Smartphones

Vier Glockenschläge hallen durch die Kirchgasse. Pünktlich ruft es «Zvieri! Pancakes!» aus dem Garten hinter dem Treff. Die Gesprächsrunde löst sich auf. Auf einer umgebauten Tonne braten zwei Jugendliche handtellergrosse Pancakes. Serviert werden die Köstlichkeiten auf Haushaltspapier mit reichlich Puderzucker und Caramelsirup. Jugendliche pusten einander den Puderzucker ins Gesicht, es wird gekichert und gequiekt. Nach dem Essen fliegen schon wieder Basketbälle über das Plätzchen, die Jugendlichen verteilen sich wieder im Treff. 

In einem abgedunkelten Hinterzimmer fläzt eine Gruppe Teenager auf Sitzsäcken. Sie sind mit ihren Smartphones beschäftigt. Ob sie mit der Zeitung sprechen wollen? «Grad nicht so Lust», murmeln die etwa 15-Jährigen und schauen sofort wieder auf ihre Bildschirme.

In der Runde draussen auf dem warmen Teer sitzen jetzt auch neue Gesichter. Die Schüssel mit Popcorn ist leer, es geht dafür eine Packung Traubenzucker herum.

Spielen statt Zahnspange 

Zehn bis sechzehn ist das Alter, in dem man Zahnspangen trägt, rasend schnell wächst und nach und nach die Welt mit all ihren Möglichkeiten erkundet. Es ist auch ein Alter, in dem man merkt, was älter werden bedeutet und auch mal sentimental zurückschaut. Zoe erklärt, dass sie für immer in Stettlen bleiben will, weil sie viele Kindheitserinnerungen ans Dorf hegt. Ihre Lieblingszeit war im Kindergarten: «Immer nur spielen – das war cool! Je älter man wird, desto schwieriger und stressiger wird alles.» 

Gerade in Bezug auf den Übertritt in die Sekundarstufe verdeutlicht sich diese Spannung. Hobbies, Freifächer, Pfadi, Hausaufgaben, Musikunterricht, Turnverein – die Wochen der Jugendlichen sind vollgepackt. Und wenn es nicht mehr reicht in der Schule, gibt‘s private Nachhilfestunden. Was machen die Jugendlichen, wenn alles zu viel wird? 

«Mit meiner Mama oder Freundinnen und Freunden reden», lautet die einstimmige Antwort. 

«Hier in Stettlen sind viele Jugendliche fest in ein Umfeld eingebettet, das hilft», sagt Andreas «Ändu» Zimmermann, der langjährige Leiter des Jugendtreffs. Aber seit der Pandemie sind auch hier immer mehr Jugendliche von psychischen Problemen betroffen. Ihm und den Jugendarbeitenden der Okja ist daher umso wichtiger, im Treff die Jugendlichen in eigenen Projekten zu bestärken und eine gute Beziehung zu ihnen zu pflegen. 

Trotz aller düsteren Szenarien sind die Jugendlichen grundsätzlich positiv gestimmt. An den Weltuntergang beispielsweise, glauben sie nicht. «Jedenfalls nicht in den nächsten 30 Jahren», stellt Larissa klar. Und dann dreht sich das Gespräch um fliegende Autos, die es sicher schon bald geben würde.


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