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«Wie sehr darf Verena von ihren Eltern fordern, dass sie umziehen?»

Ein Recht, Druck auf die eigenen Eltern zu machen, gibt es gemäss Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello nicht. Vielmehr gebe es eine gegenseitige Verpflichtung, Sorgen zur Planung des Lebensabends anzusprechen und auf Augenhöhe zu diskutieren. 

| Anina Bundi | Gesellschaft
Pasqualina Perrig-Chiello. Foto: zvg
Pasqualina Perrig-Chiello. Foto: zvg

Die Eltern meiner Freundin Verena wohnen in einem grossen Haus, in dem sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr viel Material angesammelt hat. Verena möchte, dass die Eltern ausmisten und in eine kleinere Wohnung ziehen, solange sie noch können. Sie hat keine Lust, sich im Falle, dass sie sterben oder ins Altersheim ziehen, um alles zu kümmern. Hat sie das Recht, in der Sache Druck zu machen?

Das ist ein ganz klassisches Beispiel, das viele Leute kennen. In Ihrer Frage gibt es zwei Wörter, die mir nicht angebracht erscheinen. Zuerst «Recht». Nein, ein Recht hat Verena nicht. Sondern eine gewisse Verpflichtung, einzugreifen wenn sie den Eindruck hat, dass es in die falsche Richtung geht. Diese Verpflichtung ist aber gegenseitig. Auch von den Eltern kann man erwarten, dass sie im Hinblick auf den Lebensabend ihre Dinge regeln. Verena darf oder soll das Thema zur Sprache bringen.

Und das zweite Wort?

Das zweite Wort ist «Druck». Druck erzeugt in den allermeisten Fällen Gegendruck oder gar Aggression. In diesem Fall kann es auch Traurigkeit auslösen oder Enttäuschung à la «unsere Tochter will uns loswerden». Mit Druck ist niemandem gedient. Aber Verenas Sorge ist sehr nachvollziehbar.

Wie also vorgehen?

Als Erstes würde ich Verena raten, abzuklären, ob sich ihre Eltern als Paar schon Gedanken gemacht haben. Was ist ihr Plan mit ihrem grossen, übervollen Haus? Das ist eine berechtigte Frage. Vielleicht antworten sie: «Ja, wir haben darüber geredet aber die Aufgabe ist einfach zu gross.» Wenn die Bereitschaft, es anzupacken, grundsätzlich da ist, kann man Hilfe anbieten oder organisieren.

Und wenn die Eltern nicht bereit sind?

Wenn sie nicht bereit sind, sich damit auseinanderzusetzen und vielleicht noch nicht einmal darüber geredet haben, kann Verena ihre Sorgen formulieren. Wichtig ist, in der Ich-Form zu sprechen. Also: «Ich mache mir Gedanken und Sorgen, wie das mal wird, wenn Ihr keine Kraft mehr habt, und ob dann wohl alles an mir hängen wird. Wollen wir das mal gemeinsam anschauen?» Wenn die Eltern sich darauf nicht einlassen, würde ich zwar keinen Druck aufsetzen und das Thema etwas ruhen lassen, es aber später immer wieder ansprechen. Und versuchen, herauszufinden, woran der Widerstand liegen könnte. Vielleicht stecken hinter dem Nichtanpacken Ängste oder andere Motive, etwa dass sie allgemein nichts wegwerfen können, weil es ihnen so viel bedeutet.

Viele alte Leute gehen davon aus, dass sie einfach irgendwann sterben und sie dann alles nichts mehr angeht. Dass davor eine längere Phase der Schwäche, Krankheit oder Pflegebedürftigkeit stehen könnte, blenden sie aus.

Ja, dieser Autonomieverlust kann Angst machen, lähmen und wird oft tabuisiert. Für die letzte Lebensphase gilt es daher, einiges früh genug zu regeln: die Finanzen, das Wohnen, das Hab und Gut. Ich persönlich bin der festen Überzeugung, dass das eine Verpflichtung ist. Auch wenn es für alle Beteiligten unangenehm sein kann. Es gibt auch eine Pflicht zur intergenerationellen Solidarität, dass man also an die kommende Generation, an die Jüngeren denkt und nicht bloss an die eigenen Bedürfnisse. So wie auch Verenas Sorgen nicht einfach nur mit den eigenen Bedürfnissen zu tun haben. In unserem Beispiel hätte ein Umzug ja viele Vorteile. Vertrautes zu verlassen, ist sehr schwierig. Man kann sich aber auch im Alter noch an neue Situationen gewöhnen und Gefallen dran finden. Bestenfalls kommt man im Gespräch zu einer Lösung. Wenn nicht, wenn eine Seite blockt, wird es schwierig. Das Recht auf eine Lösung gibt es schliesslich nicht.

Man könnte sich als Eltern auch auf den Standpunkt stellen, dass es halt zum Erbe gehört, dass man sich um die ganzen Sachen kümmern muss.

Das hat man früher so gemacht, ja. Früher war da dieses autoritäre Gefälle zwischen Eltern und Kindern, wo man fand: «Das Kind kann froh sein, bekommt es das Haus.» Es gab auch lange diese Selbstverständlichkeit, dass die Tochter die Eltern pflegt und nach dem Tod alles in Ordnung bringt. Aber die Beziehungen und Interaktionen zwischen den Generationen haben sich verändert. Die meisten jüngeren Alten haben mittlerweile begriffen, dass es eine Gesprächskultur auf Augenhöhe braucht.

Pasqualina Perrig-Chiello ist emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie der Universität Bern. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Entwicklung im mittleren und höheren Lebensalter sowie die Generationenbeziehungen. Von ihr sind die Bücher «Wenn die Liebe nicht mehr jung ist – Warum viele langjährige Partnerschaften zerbrechen und andere nicht» und neu «Own your Age! Stark und selbstbestimmt in der zweiten Lebenshälfte» erhältlich.


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