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Heilige: von der Romantik bis Harry Potter

Legenden von Heiligen sind ein Schatz aus Erzählungen über das Martyrium und die Wunder heiliger Männer und Frauen, die im Mittelalter sehr populär waren. Was macht die Literatur der Moderne daraus? Bringt sie damit Tabus zum Sprechen?

| Universität Bern | Gesellschaft
Prof. Dr. Nicolas Detering ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Komparatistik. Foto: unibe
Prof. Dr. Nicolas Detering ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Komparatistik. Foto: unibe

Womit beschäftigen Sie sich gerade, Nicolas Detering?

Eine der beliebtesten Textgattungen im Mittelalter und in der Renaissance war die Heiligenlegende. Das sind Erzählungen über das fromme Leben, das Martyrium und die Wundertätigkeit von heiligen Männern und Frauen. Beispiele liefert das «Passional» aus dem 15. Jahrhundert: Dies ist eine volkssprachliche Sammlung von Lebensgeschichten Heiliger, die im Spätmittelalter sehr verbreitet war. Als Literaturwissenschaftler interessiert mich, wie die Literatur der Moderne mit diesem Erzählschatz an vormodernen Heiligenlegenden umgegangen ist. 

Wieso ist das aus wissenschaftlicher Sicht wichtig?

Einige der bekanntesten Autorinnen und Autoren der Moderne setzten sich mit der als primitiv geltenden Heiligenlegende auseinander und schrieben neue, aktualisierte Heiligenlegenden. Dieses Corpus ist bislang kaum erforscht: Wir wissen wenig darüber, welche Erzählverfahren und Figuren­typen sie übernahmen und wie sie sie veränderten, um auf die drängenden sozialen Fragen ihrer Zeit zu antworten. Beispielsweise hat der österreichische Autor Joseph Roth 1926 eine Legende vom heiligen Trinker verfasst. Sie nutzt die Erzählkonvention der Gattung, um von dem Elend eines Alkoholikers und Obdachlosen in Paris zu berichten.

In anderen Texten öffnet die Heiligen-Erzählung sich für Themen wie Inzest, Prostitution, Masochismus und Androgynie, für Psychopathologien bis hin zum Mord an den eigenen Eltern. Ich möchte herausfinden, welche ästhetischen Mittel die Moderne gefunden hat, um diese sozialen Grenzphänomene zum Sprechen zu bringen. Die Moderne sucht für das Verdrängte und Unverständliche immer neue Ausdrucksformen und findet sie überraschenderweise auch im christlichen Mittelalter. 

Welche Relevanz hat Ihr Projekt für unsere Gesellschaft?

Für uns als Gesellschaft ist es wichtig zu verstehen, wie wir dasjenige ausdrücken können, was uns kollektiv am Herzen liegt und uns bewegt, was wir verehren, was uns befremdet oder sogar abschreckt. Um ein Beispiel zu nennen: Schon in der Renaissance-Malerei hat man den heiligen Sebastian, der von Pfeilen durchbohrt wird, als jungen und schönen, aber auch verletzlichen, nackten Jüngling dargestellt. Über die Jahrhunderte ist er immer mehr zur Chiffre für homoerotisches Begehren geworden. Es gibt viele Zeugnisse im 19. Jahrhundert, die belegen, dass sich homosexuelle oder queere Menschen, wie wir heute sagen würden, mit dieser Ikone identifizieren konnten und sich sogar kleine Bilder des heiligen Sebastian in ihrer Wohnung aufhängten. Vielleicht war dies ein Code für eine von der Norm abweichende Identität, die in der bürgerlichen Gesellschaft kriminalisiert wurde. Im 20. Jahrhundert wird diese Chiffre, der heilige Sebastian, immer expliziter, bis die Figur wirklich zur Ikone der Schwulenbewegung wird, wie es bis heute der Fall ist. Heiligenfiguren können eine subversive Kraft entfalten, die eine Gesellschaft verstehen sollte, um sich die eigenen Verehrungspraktiken und die eigenen Kommunikationscodes besser erklären zu können.

Was fasziniert Sie persönlich an diesem Forschungsprojekt?

Ich bin vor allem über die Literatur und die Kunstgeschichte auf dieses Thema gekommen. Für mich persönlich war es faszinierend, dass die Heiligen­legende nicht nur in den literarischen Avantgarden und in den Klassikern der Moderne fortwirkt – sie ist auch in der Populärkultur der Gegenwart sehr präsent. Beispielsweise in der Geschichte von Harry Potter, der eine Art Messias-Figur ist. Auf manchen Filmplakaten sieht man ihn auch mit einem Heiligenschein. Harry Potter folgt im Grunde genommen von Stufe zu Stufe dem Schema der alten Legenden. Manche Motive sind der Tradition direkt entlehnt: dass Harry Potter zum Beispiel unter einer Treppe aufwächst, erinnert stark an den heiligen Alexius, der 17 Jahre geduldig unter einer Treppe im Haus seiner Eltern lebte, die ihn aber nicht erkannten. Auch in der Popmusik und in der Street Art sind die Heiligen enorm verbreitet. Zum Teil werden sie dort gesellschaftskritisch eingesetzt: zum Beispiel feministisch und antirassistisch im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung. Zum Teil aber dienen sie auch einfach dazu, folkloristisch zu kommunizieren, was einer Gesellschaft heilig ist, was sie verehren und bestaunen, so wie Fussballgötter wie Diego Maradona, der in Neapel wie ein Heiliger verehrt wird. 

Wie ist das Forschungsprojekt finanziert?

Das Forschungsprojekt ist durch den Schweizerischen Nationalfonds finanziert. Ich arbeite gemeinsam mit einem kleinen Team aus erfahrenen Wissenschaftlerinnen, Doktorandinnen und Studierenden.

Prof. Dr. Nicolas Detering:

 

Prof. Dr. Nicolas Detering ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Komparatistik. Er hat deutsche, englische und vergleichende Literaturwissenschaft sowie Geschichte studiert. Nach seiner Promotion
mit Aufenthalten in St. Petersburg, Schanghai und an der Harvarduniversität erhielt Detering 2017 eine Juniorprofessur an der Universität Konstanz. An der Universität Bern folgten 2019 eine Assistenzprofessur mit Tenure-Track und 2022 die Berufung zum ausserordentlichen Professor. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Literatur des 16. bis 19. Jahrhunderts. Er leitet ein SNF-Projekt zu modernen Aneignungen geistlicher Gattungen wie der Heiligenlegende.


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