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«Wir müssen in einer reduzierten Umwelt leben»
Hannes Baur ist Kurator Entomologie (Insektenkunde) und zuständig für die Insektensammlungen des Naturhistorischen Museums Bern. Ameisen sind ihm ständige Begleiter. Seine «Lieblingsinsekten» aber sind die Heuschrecken.
Herr Baur, was sagen Sie als Fachmann Entomologie: Kann es sein, dass die Ameisen den Menschen dereinst überdauern werden, wie Astrophysiker Ben Moore es in Erwägung zieht?
Wenn wir davon ausgehen, dass uns die Ameisen überdauern werden, müssen wir annehmen, dass es in Bezug auf die Menschheit zu einem kompletten Zusammenbruch gekommen ist, was nicht wahrscheinlich ist. Falls doch, müsste dem etwas Grosses vorausgehen, wie das Einschlagen eines Meteoriten, wie dies vor 65 Millionen Jahren geschehen ist, als die Dinosaurier ausgestorben sind und die Erde über Jahrmillionen komplett umgeformt wurde.
Warum aber überlebten gerade die Ameisen nach einem Massenaussterben?
Es überlebten nicht nur die Ameisen, sondern, meines Erachtens, generell die Insekten. Natürlich würden sie in grossem Stil in Mitleidenschaft gezogen und stark dezimiert. Sie müssen sich das so vorstellen: Sollte auf Erden alles zerstört sein, so gibt es für grosse Tiere keine Möglichkeiten mehr, zu überleben. Kleine Tiere aber finden in Nischen Unterschlupf. Während sich die Umwelt verändert, können sie darin überleben. Dazu kommt, dass sich ein Insekt schnell reproduziert und sich deshalb genetisch besser anpassen kann. Also bei Insekten ist die Generationenfolge dichter.» Nehmen wir zum Beispiel ein Bakterium, das sich innert Stunden teilt. Es kann sich aufgrund dessen auch schneller anpassen. Auch Insekten schaffen zwei, drei Generationen pro Jahr. Aus diesen winzigen Lebewesen werden sich wiederum höhere Formen entwickeln.
Das Ameisen-Projekt
Hannes Baur begleitet das «Inventar der Waldameisen im Kanton Bern». Ein Projekt, das die Bevölkerung einbezieht. «Die Leute können uns Ameisenhaufen, die sie im Wald finden, melden», so Baur. Sechs Arten von Waldameisen gebe es im Kanton. Den Haufen sehe man die Ameisenart nicht an. «Wir suchen die Stellen auf, nehmen Proben und bestimmen die Ameisen im Labor.» Seine Kollegin, Isabelle Trees, mache als Freiwillige einen Grossteil der Feld- und Laborarbeit. «Zwei der sechs Arten unterscheiden sich nur genetisch, nicht vom Aussehen her. Und wieder andere nur, wenn man sie unter dem Mikroskop hat.» Mit 18 bekannten Haufen sei das Projekt gestartet. «Mittlerweile sind es 6000.» Jemand habe gar ein Waldstück mit speziell vielen Haufen entdeckt. «Gewisse Arten sind sehr spannend: Es gibt Völker, die über Hunderte von Haufen verbunden sind, sie bilden eine Superkolonie.» Wie das funktioniert? «Die befruchteten Weibchen werden hinausgetragen, damit sie eine Satellitenkolonie gründen. Alle Arten machen es anders.» (slb)
Also lässt sich das Leben nicht so «schnell» von der Erde vertreiben?
Die Evolution wird sich nicht aufhalten lassen. Arten würden sich in neue Arten aufteilen. Ein paar Jahrmillionen später würde es eine neue Fauna und Flora geben. Diese würden anders aussehen, als wir uns dies heute vorstellen können. Jede Spezies, die verschwindet, also auch der Mensch, schafft einer neuen Form Platz. Als die Dinosaurier weg waren, wurden aus mausgrossen Säugetieren, salopp ausgedrückt, irgendwann Elefanten – und der Mensch. Man weiss von Massenaussterben, auf Grund derer 90 Prozent aller Arten verschwunden waren, dass es irgendeinem kleinen Viech gelang, zu überleben, weil es die richtigen Bedingungen antraf, alles zu überdauern. Selbst wenn sich die Bedingungen änderten, ginge die Evolution weiter. Jedenfalls solange es irgendeine Atmosphäre gibt. Wir Menschen erscheinen auf der Erde sowieso nur in einem kleinen Ausschnitt des Zeitgeschehens.
Wie wir wissen, ist aber nicht das Aussterben der Menschheit das Problem, sondern ihr Umgang mit der Umwelt …
Ja, die Tatsache, dass viele Arten rasant verschwinden, ist erschreckend. Das Insektensterben ist ein grosses Problem. Dies ist auch für uns Menschen tragisch. Wir müssen in einer reduzierten Umwelt leben – wenn dies wohl leider auch nicht alle so zu empfinden vermögen. Aufgrund des Insekten- und Artensterbens nimmt auch der Bestand der anderen Tierarten ab. Zum Beispiel Vögel, die sich von Insekten ernähren. Der Rückgang ist heute schon enorm. Das ist tragisch für die künftigen Generationen.
Müsste da nicht ein Schrei durch die Menschheit gehen …?
Ich befasste mich schon als Teenager seriös mit Insekten. Ging oft in den Wald, auf Wiesen. Sammelte und studierte sie. Heute gibt es diese Lebensräume oft nicht mehr. Mit ihnen verschwanden zig Insektenarten. In so kurzer Zeit! Das Insektensterben beschäftigte und beschäftigt mich enorm. Es gab eine Zeit in meiner Jugend, da war ich richtig «hässig», weil so viel kaputt war – heute ist es leider oft noch schlimmer.
Wo entstand Ihre Insekten-Affinität?
Durch meinen Vater. Er brauchte Futter für seine Terrarien-Tiere. Oft brachte er deshalb das Grosse Grüne Heupferd heim. Es beeindruckte mich als fünfjährigen Knirps wegen seiner Grösse. Und diese Faszination begleitet mich ein Leben lang.
Es verschwindet auch Ihr «Lieblings-Insekt», die Heuschrecke …
In den 30 Jahren in meinem Beruf verschwanden viele Lebewesen. Gerade verschwinden still und leise die Heuschrecken in unseren Wiesen. Durch die verdichteten Kulturen sind die Felder nur noch grün. Die Grashalme stehen zu eng beieinander, weil die Gras-Saat zu dicht ist. So gelangt zu wenig Sonnenlicht auf den Boden, die Wärmesumme reicht nicht aus, damit sich die Heuschrecken entwickeln können. Oder sehen oder hören wir auf den Wiesen noch viele Heuschrecken? Oft finden wir nicht einmal mehr die trivialste Art. Bereits früher gab es nur zwei, drei Arten in Löwenzahnwiesen, wo zehn und mehr Arten hätten vorkommen sollen. Aber heute gibt es fast keine mehr.
Auch die Landschafts-Zersiedelung ist ein Problem. Grosse Insekten-Populationen werden in kleine Teilpopulationen zerstückelt. Durch die einzelnen Inseln können sie sich nicht mehr miteinander austauschen. So besteht die Gefahr, dass eine Art ausstirbt. Oder genetisch verarmt und im schlimmsten Fall ausstirbt. Der Prozess geschieht schleichend. Wenn die einzelnen Populationen verschwinden, kann man sie nicht mehr wieder zurückbringen. Die genetische Zusammensetzung ist für immer verschwunden. Damit ist es vorbei. Man kann dann nicht einfach die gleiche Art aus dem Ausland herholen. Diese verfügt über eine andere genetische Zusammensetzung. In unseren Alpen gibt es noch viele intakte Insektenlandschaften. Deshalb sollten wir unsere Alpen schützen. Sie, und alles, was dort lebt, sind einmalig auf der Welt.
Was müssten wir tun? Sollten wir mehr sparen, statt ständig, auf Kosten der Umwelt, mehr zu wollen? Gemessen am Beispiel Alpen und Strom?
Ich sage nur so viel: Die Art, wie wir Menschen leben, ist massgebend dafür, ob die Arten weiter aussterben.
Dieses Interview erschien zuerst im Berner Landboten.