Skip to main content

-


Anzeige

Anzeige


Mit Nächstenliebe gegen Beziehungsknatsch

Seit 70 Jahren bietet die Reformierte Kirche in Bern Paar- und Familienberatung an – und zwar ganz ohne Gebete und Bibelstudium. Der ehemalige Pfarrer von Meikirch David Kuratle ist seit 20 Jahren dabei. Im Interview erzählt er, wo die Berner Paare der Schuh drückt und wie er versucht, ihnen zu helfen. Nicht immer kann er die Erwartungen erfüllen.

| Anina Bundi | Gesellschaft
David Kuratle in seinem Beratungszimmer an der Marktgasse in Bern. Foto: Nik Egger
David Kuratle in seinem Beratungszimmer an der Marktgasse in Bern. Foto: Nik Egger

Der Verband Kirchliche Eheberatung Bern wurde 1954 gegründet. Mitglied im Verband war der «Bernische Verein für kirchliche Liebestätigkeit». Das klingt heute seltsam. Was ist damit gemeint?

Heute würde man statt Liebestätigkeit «Sozialdiakonie» sagen, also alles So­ziale, das die Kirche leistet. Die Eheberatung war nur ein Gebiet von vielen, in denen die Kirche aktiv war. In diesem Bereich leisteten die Kirchen Pionierarbeit. 

Sie waren vor Ihrer Beratungstätigkeit Pfarrer in Meikirch. Warum haben Sie den Beruf gewechselt?

Die Seelsorge wurde im Pfarramt immer mehr mein Schwerpunkt. Und dabei habe ich gemerkt, die Antworten, die ich im Studium gelernt habe, passten nicht zu den Fragen, die die Leute stellten. Also habe ich eine Weiterbildung gemacht, die Systemische Therapie und Seelsorge kombiniert. Recht lange habe ich sowohl als Berater wie auch als Pfarrer gearbeitet. Irgendwann stellte ich fest: In der Beratung ist mein Alter kein Hindernis. Im Pfarramt war das anders, zum Beispiel die Konfirmationslager erlebte ich zusehends anstrengender. Vor drei Jahren habe ich dann das Pfarramt aufgegeben.

Gibt es Parallelen? Oder: Wie oft waren Sie bereits als Pfarrer Paarberater?

Ich wurde es je länger je mehr. Als ich anfing, anders Fragen zu stellen und beraterische Werkzeuge einzusetzen, gab es auch mehr Anfragen. Es kam auch vor, dass bei der Besprechung ­einer Taufe plötzlich ein Beziehungsthema aufgebrochen ist. Früher hätte ich dann wieder zur Vorbereitung des Rituals  zurückgeführt, später ging ich mehr darauf ein. 

Sie arbeiten seit 20 Jahren als Berater auf der Stelle. Was hat sich in dieser Zeit verändert?

Die Probleme an sich haben sich nicht verändert. Positiv finde ich, dass sich die Leute jünger und auch früher beraten lassen. Ich erlebe es auch häufiger, dass Paare von Anfang an zusammen kommen. Früher kam oft die Frau und meinte, der Mann wolle nicht mit und dann musste man entscheiden, ob es eine Einzelberatung bleibt, oder ob sie ihn auch noch gewinnen kann. Geändert hat sich auch, dass neue Beziehungsformen selbstverständlicher ein Thema sind. Etwa Polyamorie oder offene Beziehungen. Heute liegt vieles selbstverständlicher auf dem Tisch. 

Arbeiten bei Ihnen auch atheistische oder sonst nicht-christliche Berater und Beraterinnen?

Man sollte eine positive Beziehung ­haben zur christlichen Kirche, bitz dahinter stehen können, sonst könnte die Identifikation mit der Arbeitgeberin schwierig werden. Aber wie eng der Kontakt ist, ist sehr unterschiedlich. Jemand mit einem muslimischen Hintergrund würde sich wohl nicht bewerben, ich würde eine Zusammenarbeit aber auch nicht per se ausschliessen. 

Und auf der Seite der Ratsuchenden?

Zu uns kommen ganz verschiedene Leute, immer wieder auch aus freikirchlichen Kreisen. Die dort vielleicht Hemmungen haben, zu ihren Problemen zu stehen. Allerdings musste ich da auch schon Erwartungen enttäuschen. Einmal kam ein Ehemann wutentbrannt aus dem Wartezimmer gestürmt, weil da keine Bibel lag. Er wollte über eine Stelle sprechen, in der es um die Unterordnung der Frau unter den Mann geht und hatte sich da Unterstützung erhofft. Die konnte und wollte ich ihm sowohl aus theologischen als auch auch therapeutischen Gründen natürlich nicht so geben.

Kommen in die Beratung auch homosexuelle Paare?

Nicht so viele, wie man erwarten würde, wenn man den Anteil an der Bevölkerung kennt. Ich denke, da ist die Schwelle bei einer Beratungsstelle mit der Kirche im Namen höher. Aber die, die kommen, bleiben dann auch. Das heisst, sie fühlen sich bei uns genau so aufgehoben wie heterosexuelle Paare.

Wird in den Beratungen auch gebetet oder die Bibel gelesen?

Nein. Auf Wunsch kann es sein, dass wir einmal ein Versöhnungsritual durchführen. Ein Paar wünschte etwa, dass wir gemeinsam das Abendmahl nehmen, was ich als Pfarrer bieten konnte, weil es in die Situation passte und nichts dagegen sprach aus therapeutischer Sicht. Sehr zurückhaltend bin ich mit Gebet in dem Sinn, dass es suggerieren könnte, man könne die ­Lösung an eine externe Instanz delegieren. Es kann sein, dass ich für mich allein in einer schwierigen Situation mal für ein Paar bete. Das ist aber nicht Teil der Therapie, sondern meine eigene, spirituelle Psychohygiene.

Mit welchen Problemen kommen Paare zu Ihnen?

Oft kommen sie in Übergangsphasen, also wenn Kinder kommen, oder eins von beiden schwerkrank war und wieder nach Hause kommt, auch nach der Pensionierung oder nach anderen Krisen. Sie sagen, es gebe keine Kommunikation mehr. Oder keinen Sex mehr. Oder allgemein, dass keine Glut mehr sei im Ofen, dass sie nur noch funktionieren. Affären sind auch immer wieder ein Thema. Oder dass ein Paar ­versucht, eine offene Beziehung zu leben, aber es für eines von beiden nicht mehr geht.

Wie sehen die Lösungen aus?

Früher haben wir viel über Kommunikation geredet. Heute arbeite ich eher emotionsfokussiert. Unter den Themen an der Oberfläche liegen oft tiefere, unbefriedigte Bedürfnisse, aus denen Muster entstehen. Wenn etwa eins von beiden gelernt hat, laut zu werden, wenn es sich nicht gesehen fühlt, und das andere sehr harmoniebedürftig ist und zumacht, wenn es laut wird. Da macht es Sinn, zuerst dieses Muster anzuschauen und die Sehnsüchte darunter herauszuschälen, bevor man zum Beispiel über die Aufteilung der Hausarbeit spricht, das Thema, das vielleicht vordergründig im Zentrum steht.

Wie oft kommen die Paare zu Ihnen?

Oft rund zehn Mal regelmässig und später sporadisch oder noch zweimal pro Jahr «in den Service», wie ein Paar einmal sagte. Bei einigen bleibt es bei einem einzigen Mal, weil es nicht passt. Anderen tut es auch schon gut, wenn sie einmal gehört und ihre Probleme gewürdigt werden, oder wenn durch das Gespräch normalisiert wird, dass die meisten Paare schwierige Phasen haben, die Anerkennung auch, dass eine Situation schwierig ist. Manchmal hilft es auch schon, wenn etwas ausgesprochen ist, und dann schauen sie selber wieder weiter. 

Was war das schönste und was das schlimmste Erlebnis in Ihren 20 Jahren als Berater?

Vor kurzem kam ein Paar zu mir, wo der Mann zwar feinfühlig war und emotional, so wie wir alle ja auch, aber seine Emotionen nicht so gut zeigen konnte. Irgendwann brach es aus ihm heraus, wie ihn die Verantwortung belastet, das ganze Geld heimbringen zu müssen und noch anderes auch. Anstatt zu sagen «Endlich sagst Du mal was», meinte seine Frau zu ihm: «Das steht Dir gut». Ich fand das eine wunderschöne und liebevolle Formulierung. Schwierig finde ich es immer, wenn die Kinder drunter kommen in einer Situation, egal ob in einer Beziehung oder in einer Trennung. Geblieben ist mir etwa, als ein Paar wegen Obhutsstreitereien zu mir kam. Der Mann hatte drei fixe Abende, in denen er ins Fitness ging und war nicht bereit, da Kompromisse einzugehen. Das konnte ich nicht verstehen und tat mir weh, weil die Kinder ihn gebraucht hätten. 

In die Einzelberatungen kommen deutlich mehr Frauen. Worum geht es da?

Auch viel um Beziehungsthemen. Oft ist es auch so, dass wenn sich ein Paar trennt, der Mann nicht mehr kommt – «der Mist ist ja geführt» – die Frau aber schon. Ich habe ein Buch geschrieben zum Thema Männerseelsorge. Darin geht es auch darum, wie man die Männer überhaupt dafür gewinnen kann, sich mit gewissen Dingen auseinanderzusetzen. Eine Weile haben wir auch Gruppen geführt, etwa für Männer in Trennung. Da war zwar ein gewisses Interesse da, aber für vier Abende verpflichten wollten sich dann doch nur wenige. Nur in einer dieser Gruppen sind Beziehungen entstanden, die bis heute anhalten.

Die Beratungsstelle ist in erster Linie von der reformierten Kirche finanziert und in zweiter Linie durch den Kanton. In letzter Zeit gab es vermehrt Diskussionen um die Kirchensteuern, zuletzt hat ausserdem der Grosse Rat entschieden, der reformierten Kirche weniger Geld zu geben. Wie gross ist der Spardruck?

Die Finanzen waren natürlich immer wieder Thema, etwa als die Kirchgemeinde der Stadt Bern finanzielle Schwierigkeiten hatte. Zurzeit sieht es aber gut aus. Ich denke, wir sind recht gut etabliert und auch eines der Angebote, mit denen die Kirche zeigen kann, dass sie für die gesamte Gesellschaft etwas leistet.

Die Beratungen sind sehr niederschwellig, es braucht keine Überweisung, die Honorare sind nach Einkommen gestaffelt und verglichen mit ähnlichen Angeboten im symbolischen Bereich. Kommen dadurch tatsächlich auch ärmere Menschen? 

Es kommen auch ärmere Leute. Aber unser Angebot richtet sich natürlich an Leute, die Lösungen im Gespräch suchen. Das ist eine Idee, die eher im Mittelstand präsent ist.

Was ist mit den Leuten, die vom Sozialamt zu Ihnen geschickt werden?

Da ist die Motivation oft nicht sehr gross. Unsere Aufgabe ist es dann, sie zu motivieren. Wenn es gelingt, ist das sehr schön. In diesen Beratungen hilft mir manchmal, dass ich als Pfarrer mit Menschen jeglichen Stands zu tun hatte. 

Bei der Anzahl Beratungen zeigt der Trend nach oben, ebenso bei den Stellenprozenten der Beratungsstellen. Warum?

Wir sind einerseits bekannter, andererseits ist es für jüngere Leute selbstverständlicher, Beratung in Anspruch zu nehmen, während es früher eher ein Tabu war und schambehaftet. Wenn die Lampe kaputt ist, geht man zum Elektriker. Dass man mit Beziehungsknörzen eine Fachperson konsultieren kann, setzt sich nun auch langsam durch.

Das Jubiläum feiern Sie mit einem Event auf dem Bahnhofplatz. Mit dabei ist ein «Fotobus». Was hat es damit auf sich?

Die Idee ist, den Leuten eine Art «Ressourcendusche» zu geben, Paare, oder auch andere Leute, dazu zu animieren, sich einander gegenüber wertschätzend auszudrücken. An der BEA haben wir etwas ähnliches gemacht. Wir haben Leute angesprochen und ihnen Fragen mitgegeben wie «Was liebst Du an mir» oder «Wem hast Du zuerst davon erzählt, als Du dich in mich verliebt hast.»

 

70 Jahre Beratungsstelle Ehe Partnerschaft Familie

 

Die Beratungsstellen sind ein Angebot kirchlicher Trägerschaften, mitfinanziert durch den Kanton Bern. Fachleute aus den Bereichen Psychologie, Sozialarbeit und Theologie mit Zusatzausbildungen in Paar- und Familientherapie beraten Paare, Einzelpersonen und Familien unabhängig von Konfession, Weltanschauung, Herkunft, Zivilstand und gewählter Lebensform. Am Samstag, 8. Juni feiert die Beratungsstelle auf dem Bahnhofplatz Bern ihr 70-Jahre-Jubiläum, 11 bis 15 Uhr, mit alkoholfreien Drinks und Photobus.

www.berner-eheberatung.ch


Ihre Meinung interessiert uns!


Verwandte Artikel


Abbau in der Psychiatrie ist noch nicht verdaut

Nach dem vor knapp drei Wochen angekündigten und zum Teil bereits vollzogenen Angebotsabbau der UPD schieben sich die Klinikleitung und der Kanton gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Für die Betroffenen ist die Schuldfrage nebensächlich.

Die Kirchen lancieren eine Charmeoffensive

Die drei Landeskirchen des Kantons Bern legten Zeugnis ab, was sie alles im gesamtgesellschaftlichen Interesse tun. Freiwillige leisten fast eine Million Arbeitsstunden pro Jahr im Dienst der Allgemeinheit. Dass die Kirchen Rechenschaft über ihre Leistungen ablegen, hat einen politischen Kontext.

Psychische Gesundheit junger Menschen stärken

Immer mehr Jugendliche leiden unter psychischen Belastungen. Ein Präventionsprojekt der Berner Fachhochschule (BFH) will jungen Menschen aufzeigen, wie sie ihre mentale Gesundheit fördern können. Es setzt auf Jugendliche, die Wissen vermitteln.