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Wer profitiert vom Geld für die Pflege von Angehörigen?

Obwohl pflegende Angehörige oft Enormes leisten, ist ihre Arbeit gesellschaftlich und gesundheitsökonomisch wenig anerkannt. Immerhin: Seit 2020 können sie sich bei einer Spitex-Organisation anstellen lassen.

| Regula Portillo | Gesellschaft
Die Pflege von Angehörigen kostet Zeit und Geld. Foto: Alexandra Wey
Die Pflege von Angehörigen kostet Zeit und Geld. Foto: Alexandra Wey

Angenommen, alle Personen, die den Schwiegervater, die Grossmutter oder das eigene Kind zu Hause pflegen und betreuen, legen per sofort ihre Arbeit nieder. Was dann? Allein der finanzielle Aufwand, um alle pflegebedürftigen Menschen, die heute daheim versorgt werden, in einer Pflegeinstitution unterzubringen, wäre enorm. Vom Pflege­bedarf ganz zu schweigen. Gemäss Bundesamt für Gesundheit (BAG) übernehmen schweizweit rund 600 000 Angehörige zu Hause Betreuungs- und Pflegeaufgaben. Der Gegenwert dieser Leistungen beträgt ungefähr 3,7 Milliarden Franken. Zahlen, die aufgrund der demografischen Entwicklung, der steigenden Lebenserwartung und des Fachkräftemangels weiter zunehmen werden. Unser Gesundheits- und Sozialsystem ist auf pflegende Angehörige angewiesen, ohne sie würde es nicht funktionieren.

Care-Arbeit als Armutsrisiko

Pflegende Angehörige brauchen gute Rahmenbedingungen. Ein Schritt in diese Richtung ist der Bundesgerichtsentscheid von 2019, der besagt, dass Spitex-Organisationen Familienmitglieder und nahestehende Personen anstellen und Pflegearbeiten entlöhnen können. Vorausgesetzt, sie leisten Tätigkeiten der Grundpflege wie etwa Hilfe beim Essen, beim An- und Ausziehen oder bei der Körper­hygiene. Der Bedarf muss ärztlich verordnet werden, und die Abrechnung erfolgt über die zuständige Krankenkasse. Ein entsprechendes Pilotprojekt wurde von der Caritas im Kanton Luzern lanciert und aufgrund positiver Erfahrungen auf weitere Kantone in der Innerschweiz und den Kanton Bern ausgeweitet. Darüber zeigt sich Projektleiter Tobias Holzgang sehr erfreut: «Unbezahlte Pflege­arbeit geht häufig mit Erwerbseinbussen und Vorsorgelücken einher», sagt er. «Mit einer Anstellung kann das Armutsrisiko reduziert werden. Neben der finanziellen Komponente melden uns pflegende Angehörige auch zurück, dass sie vor allem die Begleitung durch eine Pflegefachperson schätzten. Dadurch fühlen sie sich weniger isoliert und haben in ihrer täglichen Pflege mehr Sicherheit.»

Kein richtiges Einkommen

Viele pflegebedürftige Menschen möchten so lange wie möglich zu Hause leben, und immer mehr Angehörige betreuen sie dort. «Die Vereinbarkeit von Beruf und Angehörigenpflege bedeutet eine grosse, oft kaum zu bewältigende Herausforderung», sagt Valérie Borioli Sandoz von der Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung (IGAB). Deshalb begrüsst sie die Entwicklung von Modellen, die es ermöglichen, diese Arbeit zu entlöhnen. Trotzdem sieht sie in der aktuellen Form auch gewisse Risiken: «Abgegolten wird ausschliesslich die Grundpflege. Diese ist in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung genau definiert. Angehörige, die mit einem solchen Einkommen rechnen, müssen darüber informiert werden, dass diese Entschädigung keinesfalls ein Lohn darstellt und diesen auch nicht ersetzen kann.»

Den Umfang der Anstellung sowie die Höhe des Lohns bestimmt die entsprechende Spitex-Organisation. Gemäss einer Studie der Careum Hochschule für Gesundheit liegt das durchschnittliche Pensum von pflegenden Angehörigen, die bei Spitex Schweiz angestellt sind, bei rund 25 Prozent. Bei privaten Spitex-Anbietern ist der Prozentsatz etwas höher, was nichts daran ändert, dass man damit bei einem Stundenansatz von 30 bis 35 Franken bestenfalls einen Nebenverdienst generieren kann. Ein Nebenverdienst, der auch eine Form der Anerkennung ist für eine Arbeit, welche die pflegenden Angehörigen in den meisten Fällen sowieso leisten würden.

Angehörigenpflege als Geschäftsmodell?

Nicht nur öffentliche, sondern auch private Spitex-Betriebe dürfen pflegende Angehörige anstellen. Einige davon gerieten jüngst in die Kritik. Die bezahlte Angehörigenpflege werde als lukratives Geschäftsmodell missbraucht, lautet der Vorwurf, dem inzwischen auch die Politik nachgeht. Aufgrund mehrerer parlamentarischer Vorstösse hat der Bundesrat versprochen, sich die heutige Praxis genauer anzuschauen. Im Fokus stehen neben der Sicherstellung der Pflegequalität auch die Differenz zwischen dem von den Krankenkassen vergüteten Tarif und dem Betrag, den die pflegenden Angehörigen tatsächlich erhalten. Je nach Spitex-Betrieb beträgt dieser Unterschied gut und gern 20 Franken pro Stunde. Wofür das Geld eingesetzt wird, wird in einigen Fällen noch nicht transparent genug ausgewiesen. Das soll sich ändern. Ein Vorhaben, das Martin Beck, Qualitätsverantwortlicher bei AsFam, einer privaten Spitex-Organisation, die seit Kurzem auch im Kanton Bern tätig ist, begrüsst. «In der Tat sind in den letzten zwei Jahren jede Menge Anbieter auf den Markt gekommen, deren Motivation für ihr Engagement nicht immer so eindeutig ist. Als Mitglied des Verbandes der privaten Spitex-Organisationen ASPS fühlen wir uns dem Administrativvertrag verpflichtet, was uns aktuell einige Nachteile einbringt. Insofern sind wir sehr interessiert an einer Klärung von höchster Stelle», sagt er. Bei AsFam seien die Leistungen transparent ausgewiesen und darauf ausgerichtet, pflegende Angehörige in ihrer anspruchsvollen Aufgabe zu unterstützen und eine hochwertige Pflege sicherzustellen. Zwingend sei in jedem Fall eine sorgfältige Abklärung, ob eine Anstellung in der individuellen Situation überhaupt sinnvoll sei und zu einem effektiven Mehrwert für die Beteiligten führe, betont Martin Beck. 

Nationale Strategie

In der häuslichen Versorgung ist das Anstellungsmodell von pflegenden Angehörigen eine von vielen Optionen, die es weiter auszubauen gilt. Die IGAB wünscht sich für die Schweiz eine nationale Strategie für die Angehörigen­betreuung, die mit allen Beteiligten konzipiert und diskutiert wird. Aktuell würden betreuende Angehörige in einigen kantonalen Gesetzen hier und da erwähnt, sagt Valérie Borioli Sandoz, aber die Definitionen seien unterschiedlich, was zu einem unverständlichen Flickenteppich und zu Ungleichbehandlungen führe. Umso wichtiger, dass sich Gesellschaft und Politik dem Thema vertieft annehmen. Denn eins steht fest: Die Pflege zu Hause wird uns in Zukunft mehr denn je beschäftigen.


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