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Darf man seine Kinder anschreien? «Nein. Jein.»

Seit körperliche Gewalt nicht mehr Teil der üblichen Erziehung sei, sei Liebesentzug der gravierendste Fehler in der Kindererziehung, sagt Familienberaterin Nina Trepp.
Nicht mehr mit dem Kind zu reden, sei schlimmer, als mal laut zu werden. 

| Anina Bundi | Gesellschaft
Mit ihrem Kind könne sie Gelehrtes gut anwenden, sagt Nina Trepp –  mit anderen Menschen weniger. Foto: Nik Egger
Mit ihrem Kind könne sie Gelehrtes gut anwenden, sagt Nina Trepp – mit anderen Menschen weniger. Foto: Nik Egger

Was ist der Kern einer guten Erziehung, wenn man möchte, dass sein Kind zu einem freund­lichen und selbstbewussten Menschen mit einem guten Leben und glücklichen Beziehungen heranwächst?

Dass man es sieht, hört, ernst nimmt und bedingungslos liebt. Wenn das von den engsten Bezugspersonen gewährleistet ist, ist der Grossteil gemacht. Wichtig ist auch die «Prioritätensäule»: Zuoberst steht man selber. Zweite Priorität hat das Paarleben. Auf der dritten Stufe kommt das Kind. Man kann nur gut zum Kind schauen, wenn man auch zu sich selber schaut.

Was ist der häufigste Erziehungsfehler, den Sie beob­achten?

Dass Eltern das Konzept der Eigenverantwortung nicht kennen. Dass sie also denken, «das Kind nervt mich extra», anstatt «es macht seinen Job, seine Welt zu verstehen, und kämpft für sich». Doch eigentlich rede ich nicht gern über «Fehler», sondern eher über Nichtwissen oder Nichtkönnen.

Und was ist der gravierendste Fehler?

Seit körperliche Gewalt nicht mehr Teil der üblichen Erziehung ist, ist das Liebesentzug. Nicht mehr mit einem Kind zu reden, ist schlimmer, als mal laut zu werden. Und allgemein psychische Gewalt wie bestrafen, drohen, schimpfen, bewerten und vergleichen. 

Sie haben Weiterbildungen nach Jesper Juul besucht. Er spricht sich gegen Methoden und Ratschläge aus, aber Wikipedia zählt 29 Bücher auf von ihm. Ist das nicht ein Widerspruch?

Juul vermittelt eine Philosophie und nicht einen Erziehungsstil. Diese aufzuzeigen, braucht Geduld, es gibt ja auch noch nicht viele Vorbilder. Darum braucht es wohl diesen Platz, um verstanden zu werden und um verschiedene Leute abzuholen. Vieles wird in den Büchern wiederholt, jedoch mit einem anderen Fokus, etwa auf ein bestimmtes Thema wie Neinsagen.

Können Sie seine Philosophie in einem Satz umschreiben?

Das Wichtigste ist die Gleichwürdigkeit. Jeder Mensch, egal ob klein oder gross, hat die gleiche Würde und den gleichen Wert. Also auch Kinder und Erwachsene. Das ist nicht dasselbe, wie die gleichen Rechte und Pflichten zu haben. Wenn man das versteht, kann man vieles anders angehen. Wichtig ist auch die Eigenverantwortung. Wenn das Kind quengelt, will es mir etwas sagen. Das Kind ist nicht schuld daran, dass es mich nervt, sondern ich habe nicht genügend Geduld, bin gestresst. Das ergibt einen anderen Blickwinkel.

Juul ist dagegen, «Grenzen zu setzen». Soll man also einfach alles die Kinder entscheiden lassen?

Nein, definitiv nicht. Doch es muss immer um die eigenen Grenzen gehen und nicht darum, was «man» macht. Eines der Zitate von Juul ist: «Kinder ­suchen keine Grenzen, sie suchen Kontakt.» Sie wollen uns nicht terrorisieren oder plagen, sie versuchen, herauszufinden: «Wer bist Du?» Man muss eine persönliche und klare Haltung haben und eine klare Sprache: «Das ist mir zu laut» oder «Ich will das nicht».

In welchen Bereichen müssen die Eltern entscheiden?

Eltern müssen immer entscheiden. Wir haben die Erfahrung und darum die Führung. Doch es muss eine gleichwürdige Führung sein ohne Machtspiele. Wir beziehen ein, was wir wissen, und entscheiden. Aber immer mit Blick auf die Integrität des Kindes, die es zu schützen gilt. Es sind die Eltern, die zuständig sind für die Beziehung zu den Kindern und für die Stimmung in der Familie. 

Ein wichtiger Begriff bei Juul ist die Authentizität, also dass man als Eltern sich selber sein soll. Wo sind die Grenzen? Was ist, wenn ich von Natur aus ­ungeduldig oder jähzornig bin?

Man muss unterscheiden. Wenn ich ein impulsiver Mensch bin, der halt auch mal laut wird, kann ich so bleiben. Wenn ich aber aus Stress und Überforderung, vielleicht auch aus meiner ­eigenen Geschichte heraus ungeduldig bin, dann muss ich bei mir hinschauen. Es ist meine Pflicht als Elternteil, so gut zu mir zu schauen, dass zu meinem Temperament nicht noch mehr Stress kommt. Authentisch sein heisst nicht, jede Laune rauszulassen. Sondern: Ich weiss, wer ich bin, und vertrete meine Werte. 

Darf man seine Kinder ­anschreien?

(überlegt lange). Nein. Jein. Man darf Gefühle zeigen und kann nicht immer gelassen sein wie Buddha. Aber man darf nicht die Integrität des Kindes verletzen und ihm das Gefühl geben, etwas stimme nicht mit ihm. Und das muss man auch klarmachen, spätestens im Nachhinein. Ein Beispiel: Das Kind zappelt und wirft die Milch um und ich habe sonst schon Stress. Ich springe auf und schreie: Mann, kannst Du nicht einmal aufpassen! Du blöder Schussel! Später merke ich vielleicht, dass ich damit meine Werte verlassen habe. Dann muss man sagen können: Ich war im Stress und bin ausgerastet und es tut mir leid. Du bist okay, so wie du bist. Ein guter Test ist immer: Würde ich so mit meiner Chefin reden? Wenn nicht, ist es eher nicht gleichwürdig. 

Was ist, wenn das Kind im Teenageralter ist und ich merke, dass ich bis da alles falsch gemacht habe?

Juul sagt es krass: Mit zwölf bekommt man die Abrechnung. Aber der Vorteil, wenn es um Verantwortung geht und nicht um Schuld, ist, dass man sie auch später noch übernehmen kann. Zum Beispiel einem Kind sagen: Ich verstehe jetzt, dass ich dich verletzt habe. Komm, wir schauen, wie wir das gemeinsam angehen. Auch wenn das Kind mit 25 kommt und sagt, was in seiner Kindheit schwierig war, sollte man zuhören und sagen, dass es einem leid tut. Gleichwürdigkeit einführen, Eigenverantwortung übernehmen, zuhören, das geht alles auch noch auf dem Sterbebett und es ist auch dann noch heilsam. Was man nicht darf, ist nacherziehen. Zum Beispiel im Teenageralter plötzlich noch mit Regeln, Verboten und Grenzen kommen. 

Sie haben einen 9½-jährigen Sohn. Wie gut gelingt es Ihnen, das, was Sie lehren, anzu­wenden?

Mit dem Kind gelingt es sehr gut, mit anderen Menschen nicht immer. Das heisst nicht, dass ich immer gelassen bin und nie ausflippe. Aber ich schaffe es immer, bei mir zu sein und die ­Eigenverantwortung zu übernehmen. Ich schaffe es, mit dem Kind ohne Drohen und Schimpfen unterwegs zu sein und gleichwürdig zu kommunizieren. Am ehesten an meine Grenzen komme ich, wenn ich zu wenig schlafe, aber ich funktioniere auch dann noch recht gut. Auch in sehr schwierigen Situationen lasse ich das kaum am Kind aus. Ich habe Therapieerfahrung und kenne meine Triggerpunkte. Wenn man weiss, warum einen etwas stresst, muss man weniger aufs Kind projizieren. Aber mein Sohn wird später sicher auch mit Sachen kommen, die ich nicht gut gemacht habe. Und dann werde ich die Verantwortung übernehmen dafür. 

Wie ist das, wenn Sie auf der Strasse oder im ÖV Eltern beobachten, die etwas falsch machen? Wie gross ist die Versuchung, sich einzumischen? 

Das ist herausfordernd. Ich sage mir dann oft: Ich arbeite so viel – Therapie, Kurse, Vorträge, da darf ich mich im Privaten auch mal schützen. Ich musste lernen, dass ich mich abgrenzen kann. Doch manchmal ist es schwer auszuhalten.  

Und im Freundeskreis? 

Bei Freunden und Freundinnen versuche ich, vorzuleben und zu erzählen und auf jeden Fall sofort zu antworten, wenn sie um Rat fragen. Aber das ist tatsächlich manchmal schwierig und es kam auch schon vor, dass sich Freundschaften verändert haben. 

Sie bieten Elterngruppen nach Familylab an, also nach der Philosophie von Juul. Was muss man sich darunter vorstellen?

Das geht es an fünf Abenden um elterliche Führung, um Kooperation, ums Neinsagen, um die Eigenverantwortung, um Gleichwürdigkeit und Dialog und zum Schluss um das Thema Selbstwert. Selbstwert ist das psychische Immunsystem. Mit genügend Selbstwert kann man vieles meistern. Auch Dinge, die einen traumatisieren. Diese Themen bearbeiten wir in einer Gruppe von 10 bis 14 Leuten.

Wer kommt in die Gruppen? Extra motivierte oder extra überforderte Eltern?

Beides. Manche haben schon Dutzende Bücher gelesen und Podcasts gehört und andere wissen noch nicht viel und kommen, weil das Kind wenig Selbstwert hat oder nicht gehorcht. Die Unterschiede gibt es teils auch innerhalb der Paare, die kommen. Manchmal kommt auch zuerst ein Elternteil und bei der nächsten Durchführung noch das andere.

Gibt es etwas, was Ihnen wichtig ist und ich vergessen habe?

Ja. Eltern müssen nicht perfekt sein. Dieser Anspruch macht nur noch mehr Stress und dann kommt die Scham dazu, wenn man ihm nicht genügt. Gut genug ist gut genug. Vorausgesetzt natürlich, man wendet keine Gewalt an. Wobei, auch da: Wenn man dafür die Verantwortung übernimmt und sich Hilfe holt, muss auch da nicht alles traumatisierend sein. Bei mir können Eltern alles erzählen und werden nicht verurteilt. Wer zu mir in die Beratung oder in eine Elterngruppe kommt, hat den wichtigsten Schritt gemacht, nämlich sich Unterstützung geholt.

Zur Person:

Nina Trepp ist psychologische Beraterin, Paar- und Familien­beraterin. Sie hält Referate und gibt Kurse und Weiterbildungen, leitet Familylab-Elterngruppen und gibt Tagesworkshops für Eltern von gefühlsstarken Kindern. Die nächste Elterngruppe startet am 28. August. 

 

www.beratungen-bern.ch


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