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Paar- und Sexualtherapeut Bruno Wermuth: «So wird aus einer Beziehung ein Dienstleistungsbetrieb»

Paar- und Sexualtherapeut Bruno Wermuth glaubt, dass es nicht immer nur um Lust geht, wenn der sexuelle Impuls hoch ist. Er würde Luzius deshalb raten, auch nach anderen Wegen zu suchen, um Spannung abzubauen.

| Anina Bundi | Gesellschaft
Paar- und Sexualtherapeut Bruno Wermuth. Foto: zvg
Paar- und Sexualtherapeut Bruno Wermuth. Foto: zvg

Herr Wermuth, mein Freund Luzius hätte gerne mindestens einmal täglich Sex. Seine Freundin findet, einmal pro Woche sei genug. Er will sie nicht unter Druck setzen, ist aber unglücklich.

Interessant sind die Vorannahmen, die in dieser Frage stecken. Nämlich, dass die Beziehung nicht nur der Ort ist, wo man sexuelle Wünsche äussert, sondern wo man auch den Anspruch hat, dass sie erfüllt werden müssen. So wird aus einer Beziehung ein Dienstleistungsbetrieb. In meiner Praxis sind es eher die Männer, die glauben, dass ihnen Sex zusteht, die also ihre Bedürftigkeit an die Frauen abdelegieren. Aber es ist niemand für niemandes Befriedigung und Wunscherfüllung verantwortlich. 

Wenn man monogam ist, ist doch aber die Beziehung der Ort, wo man Sex hat und damit auch der Ort, wo man diese Bedürfnisse thematisiert.

Ja, thematisieren ist wichtig! Wenn daraus ein Gespräch entsteht darüber, wie man allgemein mit unterschiedlichen Wünschen umgeht. Aber wenn es darum geht, die andere Person zu überzeugen, ist es nicht ein Gespräch, sondern ein Manipulationsversuch. Luzius’ Freundin hat dann nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie erfüllt seine Bedürfnisse und ignoriert dabei die eigenen. Oder sie erfüllt sie nicht und hat dann ein frustriertes Visavis.

Er stellt eigentlich keine Forderungen. Aber er ist unglücklich über das Ungleichgewicht.

Warum muss ein Ungleichgewicht unglücklich machen? Ich wünsche Luzius, dass er lernt, mit Enttäuschungen umzugehen und eine Frustrationstoleranz zu entwickeln. In einer Beratung würde ich mit ihm anschauen, wie er aufgestellt ist im Leben. Welche Möglichkeiten er hat, sich gutes zu tun und was alles über Sex kompensiert wird. Hat sein Wunsch wirklich primär mit Lust zu tun oder geht es vielleicht einfach um Stressabbau oder Beruhigung. Reiner Erregungsabbau ist nicht das gleiche wie ein intimes, gemeinsames Spiel zum Vergnügen. Gerade Männer nutzen den Orgasmus gerne, um Spannungen abzubauen.

Warum ist das schlecht?

Es geht mir nicht darum, das moralisch zu bewerten. Aber wenn es nur noch eine erweiterte Selbstbefriedigung ist, die Frau also Mittel zum Zweck wird, gibt es ein Problem. Es gibt Männer, die diesen Weg wählen, die mehrmals pro Woche masturbieren, um Spannung abzubauen, oft in Kombination mit dem Konsum von Pornografie. Wenn so ein Mann dann Sex will mit seiner Partnerin, ist es verständlich, wenn ihre Reaktion lautet: «Meinst Du wirklich mich oder einfach nur meinen Körper?»

Also muss Luzius seine sexuellen Bedürfnisse selber regeln?

Letztlich ja. So ist das Leben, man ist als Mensch mit vielen Bedürfnissen allein. Das müssen ja schon Kinder lernen, sich selber und ihre Bedürfnisse zu organisieren und zu managen. Man darf aber selbstverständlich immer Wünsche äussern und beispielsweise darum bitten, Bedürfnisse gemeinsam zu befriedigen. 

Wäre Masturbieren dann nicht eine Form von Selbstorgani­sation?

Doch, klar! Ich habe in meiner Praxis immer wieder auch Männer mit einem starken Impuls, sich selbst zu befriedigen. Im Prozess stellen sie dann fest, dass nicht alles, was als Lust auf Sex empfunden wird, auch mit Sex zu tun hat. Sie kennen einfach keine anderen Wege, zu sich zu schauen und Spannung abzubauen. Häufig haben sie diese Form der Entspannung schon als Buben gelernt.

Gibt es Paare, bei denen der Unterschied im sexuellen Impuls so gross ist, dass sie keine Chance haben, glücklich zu werden?

Nein. Es gibt immer kreative Möglichkeiten, sich zu finden. Zum Beispiel, indem man das «liebende körperlich sein» entkoppelt vom «kalten Sex». Es kann auch sein, dass der Freundin von Luzius der Druck zu gross wird und sie ihm erlaubt, sich andernorts umzuschauen. Aber damit kommen dann auch die Herausforderungen ins Spiel in Zusammenhang mit der offenen Beziehung.

Dieses Gespräch ging in eine andere Richtung, als ich er­wartet hatte. Warum raten Sie Luzius nicht, mit seiner Freundin zu sprechen und geben Tipps, wie so ein Gespräch gelingen könnte?

Weil Luzius einmal täglich Sex will, was ein sehr hohes Bedürfnis ist, das genauer angeschaut werden muss. Wenn wir von zweimal die Woche reden würden, wäre es naheliegend, die Vorstellungen zu klären, was Sexualität in der Beziehung für eine Funktion hat. Wenn sich die Freundin beispielsweise gänzlich verweigern würde, müsste man überlegen, ob das Thema vielleicht auch von ihrer Seite manipulativ eingesetzt wird oder ob allenfalls eine Überforderung vorliegt. Es gibt Frauen, vor allem Mütter, die sagen, sie brauchen ein freies Wochenende zu zweit, um überhaupt an Sex denken zu können.

 

Bruno Wermuth ist Sozialpädagoge FH und arbeitet nach diversen Weiterbildungen seit 15 Jahren als Einzel-, Paar und Sexualtherapeut. Nebst Beratungen in der eigenen Praxis bietet er Workshops, Elterncoachings und Weiterbildungen an. Von 2008 bis 2023 beantwortete er als «Dr. Sex» in «20 Minuten» Fragen zu Sex und Beziehungen.

 www.brunowermuth.ch


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