Anzeige
Zwischen Utopie und menschlicher Begegnung
Matthias Nawrat schloss vor 12 Jahren sein Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel ab. Am 21. Mai stellt er im Café Werkstadt Lorraine sein neustes Buch «Über allem ein weiter Himmel», eine Sammlung von Reiseberichten aus den letzen zehn Jahren, vor.
Matthias Nawrat, der im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie von Opole (Polen) nach Bamberg emigrierte, stösst in seinem Essayband «Über allem ein weiter Himmel» mit den versammelten Reiseberichten aus den letzten zehn Jahren die Türe zu Osteuropa auf. Stationen wie Tel Aviv, Skopje (Nordmazedonien) oder Nowosibirsk (Russland) bilden den referenziellen Rahmen seiner kulturphilosophischen und politischen Überlegungen über Europa. Sie sind Kommentar, Subtext und Vision, eingebettet in autobiografische Erzählungen.
Der Sozialismus ist in Nawrats Reiseberichten allgegenwärtig; beim Anblick sozialistischer Wohnblöcke in Ljubljana, in Erinnerungen an Campingferien in Masuren als Achtjähriger oder beim Besuch der Danziger Werft, auf deren Gelände die Solidarno´s´c 1980 «den Beginn vom Ende des polnischen Kommunismus» einleitete. Die Erinnerung an das sozialistische Polen seiner Kindheit sei geprägt durch Armut, erzählt Matthias Nawrat im Gespräch mit dem «ARB». «Durch die Erfahrung, dass sich ein politisches System jederzeit ändern kann, baue ich auch keine festen Häuser und nehme materiellen Besitz nicht so wichtig».
Zwischen Utopie und Gegenwart
Die polnischen Teilungen, Fremdherrschaft, politische Unterdrückung und wirtschaftliche Entbehrungen des 19. und 20. Jahrhunderts hätten in Polen ein Denken hervorgebracht, «das in den 1980er-Jahren in seinen besten Momenten das Potential einer sozialen Utopie barg», schreibt Nawrat während einem Aufenthalt in Warschau. Intellektuelle der mitteleuropäischen Länder unter dem Einfluss der Sowjetunion durchschauten sowohl die Illusion des Kapitalismus leichter als auch die totalitären Praktiken des Kommunismus, der von westlichen Linken lange verherrlicht worden sei. «Es ist merkwürdig, denke ich, dass meine westdeutschen Freunde (…) kein Interesse für diesen Erfahrungsraum aufbringen, sondern sich eher an den US-amerikanischen Diskursen orientieren», so Nawrat an anderer Stelle.
Das kapitalistische Lebensmodell habe die soziale Utopie der 1980er-Jahre verschüttet, die wenig Wohlhabenden trügen die Auswüchse des ungebremsten Wachstums, die polnische Regierungspartei reagiere darauf mit breit angelegtem Sozialprogramm, Konservatismus und Nationalismus.
Nawrat wünscht sich ein gerechtes Europa, das nicht nur auf Kapitalismus und Individualismus aufbaut, und trotzdem «ökonomisch prosperierend und vor allem weltoffen bleibt, ohne die Illusion, die ihm durch die Kirche oder die verschiedenen Formen eines pervertierten Rationalismus (Nazismus, Kommunismus) angeboten wurden, ohne die Unterdrückung durch ideologische Weltbilder».
Im Essay über Timi,soara (Rumänien) legt er das Ost-West-Gefälle offen, das bis heute Nationen und Gesellschaften spaltet: «Wenn es um die mobilen osteuropäischen Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Feldern, in den Fabriken und in den Pflegezimmern Westeuropas geht, dann geht es auch um den potenziell unwürdigen Zustand, sich in der Fremde mit körperlicher Arbeit verdingen zu müssen, während man in seinem Heimatland vielleicht studiert hat.» Er verweist auf
die psychologischen Degradierungsmechanismen, die seit dreihundert Jahren der Besetzung und Fremdherrschaft das Bild des «lebenslustigen, arbeitsamen, ungebildeten und erzreligiösen Osteuropa-Menschen» heraufbeschwören.
In Rumänien erfährt der Autor auch vom Phänomen der zurückgelassenen Kinder jener Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie blieben, wenn nicht bei Verwandten, oft sich selbst überlassen. Viele Kinder begingen Suizid.
Konkretes und Universelles
Nawrats meditative Erzählungen sind dann am eindringlichsten, wenn sie vom Konkreten handeln, von den Menschen, denen er begegnet. In Ljubljana trifft er auf den Vater des Organisators eines Literaturfestivals, der sich einen «Floating Tank» gebaut hat – eine Wanne, gefüllt mit Salzwasser in einem schalldichten Raum, die völlige Entspannung verspricht. Dafür habe er sich 450 Kilogramm Salz aus Polen beschafft. In Skopje erzählt ihm die Lyrikerin und Korrektorin Violeta, dass sie ihre Gedichte im Badezimmer schreibe, da sie mit ihrem Mann und Kind eine Zweizimmerwohnung bewohne.
Im Brennpunkt der Sprache
Nawrat ist sich der «Unschärferelation» zwischen Konkretem und Allgemeinem bewusst: «Je genauer man sich die Herkunft und die Lebensumstände eines Menschen anschaut, desto mehr verliert man das Universelle aus dem Blick. Und umgekehrt …» Im Brennpunkt der Sprache sollten das Konkrete und das Allgemeine verbunden sein, so Nawrat.
Einen solchen Moment fängt der Autor 2016 in Nowosibirsk ein, wo er auf die junge Natascha trifft, die sich für den Anschluss der Krim an Russland ausspricht. Sie würden das Problem zusammen nicht lösen können, so Natascha über die Meinungsverschiedenheit mit dem Autor aus Deutschland, der den Anschluss gemäss westlicher Deutung als Annexion versteht. Nawrat stellt wiederum erstaunt fest, dass die Diskussion seine Sympathie für die junge Frau nicht minderte: «… auch wenn es mich im Nachhinein erschreckte, dass eine politische Frage, bei der reale Leben auf dem Spiel stehen, zu meiner Sympathie ihr gegenüber als einer
jungen Frau, die ein normales Leben
mit allen dazugehörenden konkreten menschlichen Problemen führt, wie ein Vektor in einem rechten Winkel steht …» Nawrat resümiert: «Beide berühren sich zwar in einem Punkt, ragen aber in voneinander unabhängige Ebenen und spannen den Raum erst überhaupt auf». In diesem Sinne spannt Matthias Nawrat einen Raum auf, in dem Nihilismus und Zensur, Freiheit und Schicksalsergebenheit nebeneinanderstehen und zwischenmenschliche Begegnungen die Utopie ein Stückchen näher bringen.
«Über allem ein weiter Himmel. Nachrichten aus Europa», Rowohlt, 2024
Café Werkstadt Lorraine, 21. Mai, 18.00 Uhr, Lesung und Gespräch, Moderation: Jan Dutoit