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Festwochen: Passionen im Hochsommer

Im August finden im Schloss Holligen wieder Festwochen statt. Das Thema: «Passione». Man kann es als Leidenschaft verstehen und auch als wirkliche Passion, die Leidenszeit von Jesus vor Ostern. Dieser Artikel befasst sich mit der ersten Hälfte der Festwochen; die Ausgabe vom 14. August wird auf die zweite Hälfte vorausblicken.

| Christoph Reichenau | Kultur
Egbert Moehsnang. Foto: Werner Nuber, Bern
Egbert Moehsnang. Foto: Werner Nuber, Bern

 Filme, Orgelmusik, Gesang, Tanz, Lesungen und Bilder – einen Mix aus vielen Kunstformen bietet das Programm der Festwochen im Schloss Holligen. Zwei Stränge ziehen sich durch den ganzen August: die Ausstellung von Werken Egbert Moehsnangs und der achtmal gezeigte Film «Tod Trauer Trapani». Darum herum ranken sich zahlreiche je einmalige Konzerte und Aufführungen.


Egbert Moehsnang (1927–2017), der Zeichner, Maler, Kupferstecher und in späten Jahren Künstler am Computer, kam im bayrischen Städtchen Amberg zur Welt und wurde 17-jährig in Hitlers letztem Aufgebot zum Wehrdienst eingezogen. Später schrieb er darüber: «Viel Hunger, viel Leid, viel Tod.» Paul Nizon, Berner Schriftsteller in Paris und langjähriger Freund Moehsnangs, fragte sich 2003: «Ist hier die Konstellation – die Verwundung? –, die Moehsnangs Künstlerwerden begründet; und die innerste Motivation für das in der Stille und im Verborgenen gewachsene malerische Werk, das heute als einer der wichtigen Beiträge an die internationale informelle Kunst verstanden werden darf?»


Nach Bern, «in die Insel des Friedens», stiess Moehsnang mit seiner Frau 1950. An der Postgasse 20 nistete er sich ein. Bern war in jenen Jahren, so beschrieb es Paul Nizon, «in kulturellen Belangen und vor allem auf künstlerischem Gebiet kein verschlafener Provinzort, eher schon ein angesehener Umschlagplatz der Avantgarde, und die Kunsthalle unter Arnold Rüdlingers, Franz Meyers und später Harald Szeemanns Leitung ein permanenter Anschauungsunterricht und Exerzierfeld internationaler zeitgenössischer Tendenzen.»
Nizon nahm Moehsnang damals als «heimlichen Künstler» wahr: «Sein Selbstschutz waren Höflichkeit und Zurückhaltung, was zur freizügigen existenzialistischen Kunstszene der Rüdlinger Zeit in krassem Kontrast stand. (…) Er war ein Aussenseiter, den es aus dem Ruinendeutschland in die Beamtenhauptstadt der kriegsverschonten Schweiz mit wieder offenen Grenzen abgetrieben hatte. (…) Moehsnang gehörte am Rande zu uns, er sprach ein leicht bayerisch gefärbtes Berndeutsch, er gehörte zur Altstadt, zur Subkultur. Und war doch ein Fremdling.»

Siena ist «eingefahren»

Der Fremdling errang 1957 das renommierte Aeschlimann-Corti-Stipendium und reiste dank des Preisgelds nach Italien – Rom, Florenz, Siena –, um die Werke der zuvor anhand von Reproduktionen studierten Meister im Original zu betrachten: Brunelleschi, Cimabue, Duccio, Uccello, Simone Martini, Donatello, Piero della Francesca im Original.
Auf dieser Reise sah er in Livorno zum ersten Mal das Meer. Als Kind hatte er den Vater gefragt, welche Farbe das Meer habe. Dieser, selbst noch nie am Meer, hatte geantwortet: alle Farben. Doch erst Jahrzehnte später erinnert sich der ältere Künstler, «als ich mit M. am Rande der Piazza (del Campo in Siena) sass, als wir es (…) langsam und still Abend werden liessen. Als ganze Wolken von Schwalben ihre Flugkünste zeigten, in kühnen Figuren bald oder mehr noch, im scheinbaren, heillosen Durcheinander, ein Gespinst von Gezwitscher dahinein webend, als die Farben satter wurden und schliesslich der nun dunkle Turm (des Palazzo Pubblico) vor dem nur noch durch geringe Helligkeit getragenen Abendhimmel stand: das war die Stunde, in der Siena eingefahren ist». «Einfahren» – ein starkes Wort. Es drückt eine emotionale Italianità aus, die zu den Festwochen in Holligen gehört. 1970 zog Moehsnang mit seiner zweiten Partnerin und deren vier Kindern aufs Land nach Schüpfen, baute den Minger-Hof um und richtete im weitläufigen Dachstock sein Atelier ein.

Antike und Christentum

Moehsnang kannte die griechische Antike, besonders das minoische Kreta, die Mythologie, die Sagen, die verwickelten Familienverhältnisse, die Helden und ihre Götter. Und er kannte sich aus im Christentum. Der humanistisch gebildete Moehsnang hat beides in zwei Werken ausgedrückt: im Spiegel des Acheron und in der kleinen Kupferstich-Passion.
1963 stellte er die Passion Christi in 14 Kupferstichen dar: Abendmahl, Oelberg, Gefangennahme, Darstellung vor dem Volk, Geisselung, Dornenkrönung, Kreuztragung, Schweiss­tuch, Kreuzigung, Erdbeben, Abnahme vom Kreuz, Grablegung, Magdalena, Auferstehung. Die Stiche sind abstrakt. Ein schmales Buch von 1967 bildet sie ab. Ein römisch-katholischer und ein protestantischer Theologe bejahen darin die Frage, ob die ungegenständliche Kunst imstande sei, die geistige Bedeutung der Passion zu erfassen. Und ein Kunstkritiker ist überzeugt, das Werk werde «zur sichtbaren und lesbaren Materialisation einer zeitlos gültigen geistigen Tatsache, zu einer künstlerischen Offenbarung des Passionsgeheimnisses».


In fast sieben Jahrzehnten hat ­Moehsnang ein grosses, weitgespanntes Werk geschaffen. Es umfasst feine Zeichnungen, Gouachen, Ölbilder auf Rupfen und Leinwand, mit Tusche gemalte Werke, farbige Radierungen, Kupferstiche. Darunter sind mehrteilige Paravents und Triptychen. Die Formate reichen von kleinen Blättern bis zu grossformatigen, ja monumentalen Drucken in Schwarz und Weiss und allen Zwischentönen. Am Anfang sind die Farben hell, fast luftig, bald erscheinen eigenhändig mit Erde gemischte, dunklere und ganz dunkle Farben. Heraus ragen Werkserien zu mythologischen Themen und christlichen Vorstellungen.

Triptychon Pfarrkirche Schüpfen. Foto: Peter Bachmann, Bern (Nr. 13172)

«Wahrhaftigkeit» wieder­erlangen

Aussergewöhnlich ist, dass der fast 70-jährige Künstler die Malerei durch die Arbeit am Computer ersetzte und dabei im Druckwerk neue Wege ging. Matthias Frehner, Direktor des Kunstmuseums Bern, empfand 2007: «Die komplizierte Übertragung des Computerbildes in vielen Arbeitsschritten auf die Platte kommt einer Erweiterung der grafischen Künste gleich.»


Moehsnang schuf zahlreiche Auftragswerke: Altarbilder, Glasmalereien, Reliefs, Skulpturen, Wandteppiche, die etwa in der französischen Kirche Bern, in Biel, auf der Petersinsel, in Steffisburg oder in Berzona (TI) zu besichtigen sind. Er erteilte auch selber Aufträge, so dem Münsterorganisten Daniel Glaus für das Werk «In hora mortis», in der Stunde des Todes, eine Messe für Klaviertrio mit Texten von Andreas Urweider; sie wird in Holligen aufgeführt.


Im Lexikon zur Kunst in der Schweiz, SIKART, hält Peter Fischer (ehemaliger Direktor des Zentrum Paul Klee) fest, Moehsnang setze sich «mit einem Humanismus auseinander, der sich in klassischer Weise auf antike Vorstellungen beruft. Zeitlebens verfolgt er nur ein Ziel, nämlich seine Kunst aus einer inneren Notwendigkeit heraus zu schaffen. In seinem Werk geht es nicht darum, die Welt zu illustrieren oder zu kommentieren. Vielmehr arbeitet er sich unaufhörlich daran ab, eine ‹Wahrhaftigkeit›, wie er es selbst nannte – eine verlorene Ganzheit –, wiederzuerlangen.» Ein Film von Susanna Brändli, Urs Kohli und Heidi Ueltschi gibt Einblicke in Moehsnangs Schaffen. Die Einführung von Peter Fischer und Werner Nuber an der Vernissage vom 2. August sowie eine Soirée am 27. August in der Burgerbibliothek, die Moehsnangs persönlichen Nachlass betreut, vertiefen das Verständnis für den Künstler.

28 2024 Schloss Holligen 1 Kopie

Aussenseite Triptychon.Foto: Peter Bachmann, Bern (Nr. 13176)

Tod Trauer Trapani

Wenn man will, schlägt Egbert Moehsnangs «Kleine Kupferstich-Passion» von 1963 eine Brücke zur zweiten Linie der Festwochen im Schloss Holligen, zur Leidenszeit von Jesus. Der Schweizer Jazzmusiker Ben Jeger und der im umbrischen Bevagna lebende Bieler Filmer Clemens Klopfenstein («Geschichte der Nacht», «E nachtlang Füür­land», «Die Vogelpredigt») haben die «processione dei misteri» miterlebt, die im sizilianischen Städtchen Trapani jedes Jahr von Karfreitag- bis Ostersamstagmittag während 22 Stunden durchgeführt wird. Zwanzig Blasmusiken sind Teil einer Prozession zum Andenken an den Leidensweg von Jesus. Im Wiegeschritt marschierend, spielen die Bandas Trauermärsche, tragen Männer die schweren Statuen durch die Gassen hinauf und hinunter. Die 63 Minuten lange Tondokumentation – Klopfenstein war statt mit der Kamera mit dem Mikrofon unterwegs – wird als Film ohne Bild angekündigt, als «cinéma pour l’oreille» – lassen wir uns von unseren eigenen Bildern im Kopf überraschen.

Schloss Holligen, Bern, 2. bis
30. August.
Programm unter:
www.schlossholligen.ch

 


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