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Verdrängte Bilder und die Kraft der Imagination
Mit «Das Lied des Partisanen» legt Amedeo Baumgartner einen Roman vor, der auf wahren Tatsachen beruht. Die Schilderungen entsprechen dem Tag nach Mussolinis Hinrichtung, den Baumgartners Mutter als Kindermädchen einer faschistischen Familie in einem Palazzo eines Adligen verbrachte.
29. April 1945, ein Palazzo am Stadtrand in der Nähe von Monza im Norden Italiens. Hier bilden Major Silvano Cesselli mit seiner Frau Maria und den drei Kindern, die unter der Obhut des Kindermädchens Rosetta stehen, ein General im Ruhestand mit dessen Frau Angela und der Conte Tommaso De Piano mit seiner Familie eine Zwangsgemeinschaft. Die deutsche Wehrmacht hatte die Villen des Majors und des Generals zwecks Errichtung eines Hauptquartiers beschlagnahmt und die hinausgeworfenen Familien in den Palazzo De Piano einquartiert. Major Cesselli behält seine Mitbewohnerinnen und Mitbewohner genau im Auge. Er ist ein strammer Faschist mit weitreichenden Befugnissen, wie sich im Laufe der Lektüre herausstellt. Der General konnte sich durch seine Demissionierung dem Kriegsdienst entziehen; er pflegt Kontakte zur Resistenza und aufständischen Kräften im Militär so wie auch der Conte heimlich mit der Resistenza in Verbindung steht. Auch Rosetta steht unter besonderer Beobachtung; ihr Bruder gilt als verschollen – man vermutet, dass er sich den Widerstandskämpfern angeschlossen hat, so wie auch ihr Cousin Luca, dem in der Erzählung eine besondere Rolle zukommt.
Als sich die Nachricht von Mussolinis Hinrichtung durch die Resistenza verbreitet, beginnt in der Villa de Piano der grosse Showdown. Der General will zur Feier des Tages das Lämmlein schlachten, das er vor Wochen erstanden hatte, um die Sympathie der Kinder zu gewinnen und das Ende des faschistischen Regimes zu feiern. Jetzt sollen sie lernen, was es heisst, ein Opfer zu bringen; die Kinder jedoch leisten heimlich Widerstand. Unter Rosettas Regie hecken sie einen Plan aus, um ihr geliebtes Lamm Lili zu retten. Während die Erwachsenen versuchen, mit scharfen Anspielungen und Bluffs das Spiel auf mentaler Ebene für sich zu entscheiden – sowohl der Major als auch der Conte und der General kündigen Verstärkung an – spielen die Kinder ein ganz anderes Spiel.
Verarbeitung eines Traumas
Dieser Roman, den der Berner Autor und Künstler Amedeo Baumgartner mit «Das Lied des Partisanen» vorlegt, basiert auf wahren Begebenheiten. Nach einem Hirnschlag, den Baumgartners Mutter mit 79 Jahren erlitten hatte, waren die Erinnerungen an jene dunkle Zeit wieder da. «Ich war erschüttert, als mir meine Mutter zum ersten Mal von diesen Ereignissen erzählte», so Baumgartner. Er setzte sich jeweils abends mit Notizblock ans Bett der Mutter und half ihr, das lange Verdrängte zu bearbeiten.
1944 kam die damals 20-Jährige Elide Bortolozzi als Kindermädchen in das Haus eines einflussreichen national-faschistischen Majors. Die ungewöhnliche Konstellation, wie sie Baumgartner im Roman beschreibt, entspreche den Schilderungen seiner Mutter. Den Handlungsstrang um die Rettung des Lämmleins habe er erfunden.
Ihr Bruder Guido galt als verschollen. Er habe seinen Onkel zwei, drei Mal getroffen, erinnert sich Baumgartner. Als Dienstverweigerer sei er von deutschen Truppen aufgegriffen und ins KZ Mauthausen gebracht worden. Bei seiner Entlassung habe er noch 35 Kilogramm gewogen. Überlebt habe er nur, weil die russischen Gefangenen alles geteilt hätten.
«Das Lied des Partisanen», Antium Verlag, Wangen (SZ)(, 2024 art-amedeo.ch
«Die Familiengeschichte hat meine Berufswahl sicherlich geprägt», so Baumgartner. Seine Mutter habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn gehabt. Prägend sei aber auch die Angst vor dem Verarmen gewesen. Nach dem Krieg lebten seine Grosseltern auf einem kleinen Hof in der Nähe von Treviso am Piave, wo sie Hühner hielten, Obst anbauten und mit handwerklichen Gelegenheitsaufträgen das Überleben sicherten. So studierte Amedeo Baumgartner auf Anraten des Vaters hin Jura. «Ich habe aber immer schon gewusst, dass ich Künstler werden will». Nach dem Staatsexamen arbeitete er jeweils halbtags als Jurist, den Rest der Zeit widmete er sich der Kunst und dem Schreiben. Baumgartner verbrachte viele Stunden in Museen, um sich all das Wissen über Malerei anzueignen, das heute in seine fotorealistischen Arbeiten fliesst. Dabei war er anfangs im Austausch mit seinem ehemaligen Zeichenlehrer, bis dieser ihm konstatierte, er könne ihm nichts mehr beibringen.
Dem Buchcover liegt das Gemälde «Allein am Tisch», aus der Reihe «Ex Cinema», zu Grunde; Standbilder aus Filmen, die er am Computer grafisch verändert und in mehreren Arbeitsschritten mit unterschiedlichen Farbschichten auf die Leinwand bringt. «Diese Bilder erlauben ein Eintauchen in einen ganz eigenen Film», so Baumgartner. Sie entsprächen dem Moment, wenn man im Kino oder beim Fernsehen für eine Sekunde gedanklich abdrifte und sich Parallelgeschichten auftäten.
Diesem Prinzip folge auch sein Roman. Baumgartner verzichtet auf detaillierte Beschreibungen der Figuren und des Interieurs. Durch die scharfen Dialoge gewinnen die Charaktere an Kontur und erlauben dem Leser, sich seine eigenen Bilder zu machen.
Nach dem Studium absolvierte Baumgartner ein Gerichtspraktikum in Aarwangen, wo er in Kontakt kam mit Fällen von Selbstmord, Mord und Vergewaltigung. Das Strafrecht habe ihn immer mehr interessiert als das Privatrecht. «Der Mensch ist ambivalent», so Baumgartner auf die Frage nach dem Guten und Bösen im Menschen. So sei es möglich, dass eine Figur wie Major Cesselli ein liebender Familienvater und gleichzeitig ein kaltblütiger Militär sein könne, der ohne mit der Wimper zu zucken, Tötungsbefehle erteile.
Fast ein Vierteljahrhundert, bis sieben Jahre vor seiner regulären Pensionierung, als er sich ganz der Kunst und dem Schreiben zu widmen begann, arbeitete Baumgartner beim Bundesamt für Veterinärwesen, wo er unter anderem Fälle von Schmuggel beurteilte. Sein nächster Roman wird davon handeln: Vom Kaviarschmuggel.