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«In der Jugend begegnet man vielen Emotionen zum ersten Mal»

Mit «Frühlings Erwachen» nach Frank Wedekind bringt Bühnen Bern unter der Regie von Joanna Praml ein Stück übers Erwachsenwerden auf die Bühne, das auch über hundert Jahre später für Zündstoff sorgt. Im Zentrum der Inszenierung stehen die Sorgen und Ängste von Jugendlichen, dargestellt von jungen Bernerinnen und Bernern.

| Bettina Gugger | Kultur
Frühlings Erwachen
Foto: Marvin Mears

Eine Gruppe von Jugendlichen steht ums Klavier und singt einen traurigen Song mit dem Refrain: «Lord, you know, I’m tired». Dazu hält eine junge Frau einen herzzerreissenden Monolog. Sie beklagt das Erwachsenwerden, die Erwartungen, denen sie als junge Frau entsprechen soll: «Früher war ich zu schüchtern, heute zu laut. Aber ich weiss noch gar nicht, wer ich bin, wer ich sein will, und ob mich jemals jemand lieben wird, auch wenn ich das alles nicht weiss.» Schliesslich deutet ihre Geste einen Kopfschuss an. Das sind die Proben zu «Frühlings Erwachen» von Bühnen Bern in der Vidmarhalle. 

Zehn Berner Jugendliche widmen sich unter der Leitung von Regisseurin Joanna Praml Frank Wedekinds erstem Stück, dessen Druck der junge Theaterautor 1891 aus eigener Tasche bezahlte und das prompt der Zensur zum Opfer fiel. Schliesslich feierte es 1906 an den Berliner Kammerspielen unter der Regie von Max Reinhardt Premiere. Das Stück handelt von den Sorgen und Ängsten der Jugendlichen im Wilhelminischen Kaiserreich, von schulischem Leistungsdruck, der prüden Sexualmoral, die es verbot, die Jugendlichen aufzuklären, von Vergewaltigung, ungewollter Schwangerschaft, Abtreibung und Suizid. «Frühlings Erwachen» sorgte bis in die jüngste Vergangenheit für rote Köpfe; 2009 wurde an einer Zürcher Kantonsschule ein Deutschlehrer aufgrund dieser Lektüre der Pädophilie und der Weitergabe pornografischen Materials an Minderjährige beschuldigt. Erst drei Jahre später wurde der Lehrer von den Anklagepunkten freigesprochen. 

Düstere Gedanken gehören dazu

«Wir leben nicht mehr in der Zeit von Wedekind, wo die Jugendlichen nicht über Fortpflanzung Bescheid wissen. Einerseits spricht man offen über Sexualität, andererseits bleibt die Unsicherheit beim Entdecken der eigenen Sexualität», so Praml. Prüfungsdruck und psychische Instabilität bis hin zu Suizidgedanken sind aktueller denn je, blickt man in die jüngsten Studien über die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.

Düstere Gedanken gehören für Praml zum Erwachsenwerden dazu, sich wegzusehnen und sich auch der eigenen Endlichkeit bewusst zu werden. «In der Jugend begegnet man vielen Emotionen zum ersten Mal und erlebt sie dadurch sehr intensiv», so Praml. Sie will den Blick auf die Tiefe richten, die hinter dieser Emotionalität steckt. Zentral ist für sie das mangelnde Verständnis für die Jugendlichen, das Herunterspielen ihrer Sorgen und Ängste als «blosse hormonelle Achterbahn». 

«Die Medien transportieren oft ein bestimmtes Bild von der Jugend», so Praml. Es gebe viele Klischees und Vorurteile. Berührungspunkte zwischen Generationen fehlten. «Wir müssen neu darüber nachdenken, wie wir miteinander in Kontakt treten.» 

Seit 2007 arbeitet die ausgebildete Schauspielerin Joanna Praml als Regisseurin. Dabei bearbeitet sie vorwiegend mit jungen Erwachsenen klassische Stücke wie «Romeo und Julia» oder «Ein Sommernachtstraum», mit dem sie für den Deutschen Theaterpreis nominiert war. Dabei bringt sie jeweils die Erfahrungswelten der jungen Darstellenden in Reibung mit dem Stück. Auch in «Frühlings Erwachen» flossen die Ideen und Gedanken der Jugendlichen mit ins Stück ein. «Ziel war es, das Stück neu zu erzählen mit Stimmen der Jugendlichen von heute», so Praml. So bringen die jungen Darstellenden, die zwischen 15 und 19 Jahre alt sind, ihre Persönlichkeit mit auf die Bühne. Sie treten mit dem eigenen Vornamen auf, die Figuren sind jedoch teilweise an die Figuren Wedekinds angelehnt. Im Zentrum stehen bei Wedekind der liberal erzogene Melchior Gabor, der später Grenzen überschreitet, Moritz Stiefel, der um seine schulische Versetzung bangt, und Wendla Bergmann, die von ihrer strengen konservativen Mutter nicht aufgeklärt wurde und ungewollt schwanger wird.

Die Proben verlaufen konzentriert, die Jugendlichen setzen um, was Joanna Praml vorschlägt; mal ist die Stimme zu leise, mal eine Geste zu ausladend. Auch Hajo Wiesemann, Pianist, Komponist, Arrangeur und musikalischer Leiter, scheint mit der Leistung des Ensembles zufrieden zu sein. Dazwischen blödelt die Gruppe auch mal herum, die Jugendlichen geben einander Rückmeldungen, bestärken einander. «Dabei zu sein, wie Jugendliche Theater entdecken und als Ensemble eine Dynamik entwickeln, ist das Schöne an der Arbeit mit jungen Darstellenden», so Praml. 

Die Dynamik ist bei den Proben deutlich spürbar. Plötzlich scheint die eigene Jugend wieder ganz nah …

 

Vidmar 1, Bern, Premiere 12.10., 19.30 Uhr. Einführung 30 Minuten vor Vorstellungsbeginn. 

Daten und Infos: buehnenbern.ch 


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