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Wenn die Welt aus den Fugen kippt
Das Kunstmuseum Bern würdigt mit der Retrospektive «Chaïm Soutine. Gegen den Strom» das Werk eines der bedeutendsten Maler des 20. Jahrhunderts, der ausserhalb Frankreichs, Nordamerikas und der Schweiz noch wenig bekannt ist, obwohl er stilbildend für die nachfolgenden Generationen war und den abstrakten Expressionismus vorwegnahm.
Chaïm Soutine soll endlich seinen Platz im Kanon bekommen», so Nina Zimmer, Direktorin des Kunstmuseums Bern anlässlich der Medienführung zur Ausstellungseröffnung der Retrospektive «Chaïm Soutine. Gegen den Strom», die sich einem Künstler widmet, der sich zwar in Paris im Kreise der Avantgardisten bewegte, sich aber den Genres seiner Zeit entzog und stilbildend für nachfolgende Generationen wurde. In Zusammenarbeit mit der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf und dem Louisiana Museum of Modern Art in Humlebæk (Dänemark) zeigt das Kunstmuseum Bern 60 Werke von Chaïm Soutine, wovon sechs aus der Sammlung des Hauses stammen.
Bereits in Chaïm Soutines frühen Werken äussert sich die expressionistische Kraft und die tiefe Empathie, die sein Werk auszeichnet. «La vielle fille» von 1920 zeigt eine weibliche Gestalt in einer roten Bluse vor dunklem Hintergrund, deren liebliches Gesicht schrumpelig und zerknautscht erscheint. Ihre jugendliche Anmut und Sanftmut haben etwas Rührendes. Der expressive Pinselstich lässt den Betrachtenden schwanken: Zeigt das Porträt die alte Frau im jugen Mädchen oder das junge Mädchen in der alten Frau?
Zwischen Hunger und Obsession
1913 emigriert Chaïm Soutine mit 20 Jahren von Smilawitschy, einem «Schtetl» in der Nähe von Minsk (heute Belarus) nach Paris, wo er in der Ateliersiedlung La Ruche in Montparnasse auf Künstlerkollegen wie Marc Chagall und Amedeo Modigliani trifft, die sein Werk inspirieren sollten.
Die ersten Jahre in Paris – wie auch seine Kindheit als zehntes von elf Kindern – sind geprägt von Hunger, wie das Stilleben «Nature morte aux harengs» aus dem Jahr 1916 verdeutlicht. «Die zwei Gabeln, die wie Klauen nach den Heringen greifen, verweisen darauf, dass die Mahlzeit durch zwei geteilt werden musste», so die Kuratorin Anne-Christine Strobel. Die Erfahrung des Hungers habe Soutines Werk geprägt; seine Porträts von Köchen und die obsessiven Darstellungen von geschlachteten Tieren wie Rinderhälften, Hühnern und Fasanen liessen darauf schliessen. Auch als es ihm wirtschaftlich besser gegangen sei, habe Soutine keine üppigen Mahlzeiten zu sich nehmen können – er litt zeitlebens an Magenproblemen. Die Bilder der geschlachteten Tiere sind aber auch Reminiszenzen an Rembrandt, dessen Werk er 1925 in Amsterdam studiert.
«La Volaille morte» von 1924 nimmt den abstrakten Expressionismus bereits vorweg, dessen Vertreter – Künstler wie Jackson Pollock – sich später auf Soutine beziehen. Wie in Ekstase scheinen die Pinselstriche auf die Leinwand gepinselt, ja fast schon geklatscht worden zu sein. Die Konturen des Huhns sind kaum mehr nachvollziehbar, in den Vordergrund tritt der Tanz der Farben, gelb vor blau-grünem Hintergrund, die Farbpalette an Van Gogh erinnernd.
Der grosse Durchbruch
1919 reist Soutine für einen längeren Aufenthalt nach Céret, eine Kleinstadt in den Pyrenäen, die schon Henri Matisse, Pablo Picasso und Georges Braque inspirierte, ermuntert von seinem Galeristen Léopold Zborowski, dessen Kontakt ihm sein Freund Amedeo Modigliani vermittelt hat. Der Einfluss Modiglianis lässt sich etwa am Gemälde «La robe rouge» von 1928, das eine in die Länge gezogene Dame in rotem Kleid zeigt, ablesen.
In Céret geraten Soutines gemalte Landschaften ins Wanken, wie in einem Strudel scheinen Dörfer herumgewirbelt zu werden. «Es wirkt so, als hätte er zweierlei gemalt – das, was er sah, und zugleich seine eigenen inneren Energien, die unter einer dünnen Schicht verborgen waren, bereit, jederzeit explosionsartig hervorzubrechen. Die fiebrigen Formen und Strukturen seiner Landschaften scheinen einem inneren Druck nachzugeben, der sie zusammendrückt und verdreht, sie ansteigen und abfallen lässt», schreibt Kuratorin Marta Dziewanska im Ausstellungskatalog. In den Gemälden «La Colline de Céret» (1921) und «Paysage de Céret» (1920/21) lösen sich Landschaften in abstrakte Malerei auf. Motive sind nur noch zu erahnen.
1922/23 verbessert sich Soutines wirtschaftliche Situation mit einem Schlag. Albert C. Barnes, ein amerikanischer Kunstsammler, erwirbt 52 seiner Werke, inspiriert vom Porträt eines jungen Patissiers, das in der Tradition des französischen Impressionismus steht. Soutine verbringt viele Stunden im Louvre, wo er die alten Meister und die Darstellung des Lichts bei Malern wie Gustave Courbet studiert.
Mit den Mittellosen
Seine Porträts, die oft Menschen aus der untersten Gesellschaftsschicht in ihren Arbeitsuniformen zeigen, werden richtungsweisend für Künstler wie Francis Bacon. Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit spricht aus ihren viel zu grossen Augen, die verzerrten Gesichter laufen der Seriosität, welche die Uniform ausstrahlen soll, zuwider. «Diese einfühlsamen Karikaturen scheinen die glücklosen Menschen gleichzeitig zu ehren und zu verspotten», so Dziewan´ska. Ihre Hilflosigkeit ist herzzerreissend, als ob der Maler ihr Innerstes auf die Leinwand gebracht hätte. «Le Groom» von 1925, das einen Pagen in roter Uniform vor dunklem Hintergrund zeigt, erinnert mit seinen übertrieben eckigen Konturen und den riesigen schwarzen melancholischen Augen an die Selbstporträts von Egon Schiele, dessen besonderes Augenmerk den Textilien galt. In diesem Gemälde offenbart sich die Gesellschaftsordnung von Jahrhunderten, das Buckeln der Ärmsten für die Reichsten und das falsche Versprechen des Kapitalismus. Die Uniform selbst verhöhnt diese Menschen; sie soll verbergen, was die Gesichter ganz offensichtlich erzählen.
Als Anfang der 30er-Jahre Zborowski Soutine aufgrund des schwächelnden Kunstmarktes nicht länger vertreten kann, wird das Ehepaar Castaings zu seinen Mäzenen. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieg lebt er mit Unterbrechungen bei ihnen in Lèves, wo die Hausangestellten zu seinen Modellen werden.
Chaïm Soutine, «Le Groom», 1925,
Centre Pompidou, Paris, Musée national d‘art moderne – Centre de création industrielle.
Foto: bpk/CNAC-MNAM/Philippe Migeat
Seine letzten Jahre sind geprägt von Krankheit und politischer Verfolgung als jüdischer Migrant. «La Liseuse» (1940), das eine liegende, über ein Buch gebeugte Frau zeigt, ist das jüngste Gemälde in der Ausstellung. Soutine wird 1943 aufgrund eines performierten Magengeschwürs notoperiert und stirbt zwei Tage darauf.
Bis auf wenige Briefe hat Soutine keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Catherine Frèrejean erstellte aus vereinzelten Dokumenten, Berichten aus dem Freundeskreis und von Sammlerinnen und Sammlern eine ausführliche Biografie, die sich im Katalog findet.
Im Vorwort schreiben die Verantwortlichen der drei Museen: «Die Menschen und Motive berühren zutiefst, weil ihre Verletzlichkeit den Existenzängsten unserer Zeit Ausdruck verleiht». Soutine transportierte die grossen Meister in seine Gegenwart und schuf damit Werke, die über seine Zeit hinauswiesen, da er, der Getriebene und Heimatlose, das Universelle der menschlichen Existenz einzufangen vermochte.
Kunstmuseum Bern, «Chaïm Soutine. Gegen den Strom» bis 1. Dezember.
kunstmuseumbern.ch