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Astronautin ohne Ausbildung

Christine Olmos gewinnt mit ihrem «Logbuch» über ihre Krebserkrankung den Literaturpreis des Kantons Bern. Mit ihrer präzisen und eindring­lichen Sprache findet sie Worte für das eigentlich nicht Beschreibbare.

| Bettina Gugger | Kultur

Mitte August 2019: Innerhalb von zweieinhalb Wochen erhält Christine Olmos zwei Krebsdiagnosen. Der Tumor in ihrer Brust ist schnell wachsend und höchst aggressiv – triple-negativ. Ein anderer Krebs wird im Unterleib gefunden. Gebärmutter, Eierstöcke und Eileiter müssen entfernt werden. Dieser Krebs ist glücklicherweise weniger aggressiv. «Es ging alles extrem schnell. Ich wurde von einem Tag auf den anderen in eine andere Welt gestellt», so Christine Olmos im Gespräch mit dem «ARB». «Ich hatte keinen Boden mehr unter den Füssen und nahm die Ereignisse wie durch einen Schleier wahr.»
In ihrem «Logbuch», das mit dem Literaturpreis des Kantons Bern ausgezeichnet wird, schreibt sie über diesen Zustand: «Als das Urteil fiel /
 verlor der Boden seine Spannkraft / Die Himmelsrichtungen verrutschten /
oben unten / rechts links / flogen aus der Erdanziehung / Seither bin ich eine Astronautin / ohne Ausbildung.»
Am Anfang der Therapie machte sie sich täglich Notizen. Schon da sei manchmal ein Satz durchgedrungen, der über die Alltagssprache hinausgewiesen habe. Es gab aber auch Tage, da gelang kein Satz, musste sie die Notate abbrechen, weil sie von der Chemotherapie und der Strahlentherapie zu geschwächt war. Zwei Jahre nach Therapieende wollte Olmos eine Ordnung in die Ereignisse bringen. Sie ist ausgebildete Primarlehrerin und Heilpädagogin, arbeitete lange als Bibliothekarin und führt bis heute eine Praxis für Biografie- und Gesprächsarbeit.
Olmos, die bereits ein Kinderbuch und Geschichten für die Kinderstunde fürs Radio DRS verfasste und 2017 den Lyrikband «Ungesehen reist ein Wort» herausbrachte, gab dem Durchlittenen eine Sprache: «Etwas musste überwunden werden», so die Autorin. Während des Schreibens begann sie an ihren Sätzen zu feilen, bald war klar, dass sich die Aufzeichnungen vom rein Persönlichen lösten. Sie lege mit ihrem Logbuch keinen Befindlichkeitsbericht vor, betont sie.
Ihr Logbuch zeichnet sich durch äusserste Präzision aus. In knappen Sätzen beschreibt sie die neue Wirklichkeit der Krankheit, die sich ihr entzieht und die kein Widersprechen, keine Auflehnung duldet; Chemotherapie, starke Nebenwirkungen, Hoffnungslosigkeit: « … am Ende meiner ausgefransten Gedanken taucht ein Wort auf, Sarglage». Und dann dringt wieder Licht zwischen den dunklen Zeilen hindurch: «Dass der Tod vorbeikommt / im August / habe ich mir niemals vorgestellt / Er muss doch weiterziehen / denke ich / Sommer ist Reisezeit».

Die Zeit löst sich auf

Zwischen Wut, Scham und Hoffnung begibt sich Olmos in die Zeitlosigkeit, wo die Dinge einfach sind. «irgendwo geht es / irgendwo steht es / irgendwo lacht es /irgendwo schreit es / irgendwo weint es / irgendwo schweigt es / irgendwo wacht es / irgendwo träumt es / irgendwo liebt es / irgendwo zürnt es / irgendwo lebt es / irgendwo stirbt es / irgendwo geht es». In diesem Irgendwo ohne Begrenzung findet das Ich für einen Moment Frieden. So heisst es an anderer Stelle: «Zu viel in der Zukunft sein bildet Zwischenräume zum Jetzt, da kann sich Angst einnisten».
Die Zeit zwischen Therapieende und erster Kontrolle sei nochmals geprägt gewesen von Furcht, so Olmos.
In dieser Phase zeichnete sie täglich mit geschlossenen Augen ein Selbstporträt – ohne den Bleistift abzusetzen, ganz nach dem Vorbild Picassos. Die Zeichnungen, welche die Publikation begleiten, berühren durch die Verletzlichkeit, die sie ausstrahlen. Sie zeugen von einem fragilen Ich, welches das Vertrauen in den eigenen Körper wieder finden muss, «in den Körper, der ­etwas macht, das ich nicht will», wie Olmos sagt.
Die Notate enden fünf Tage vor Ostern: «Der Himmel ist blau, ohne eine einzige Flugzeugspur. Wo der Wald anfängt, biege ich ab, mein Schatten folgt mir, später wird er neben mir gehen … Die Zeit tropft. Erinnerungen kommen und gehen. Ich lasse sie zu.»

 

«Logbuch. Notate», allenfalls gmbh, Bern, 2023.
Online LIT.DATE: Christine Olmos im Gespräch mit SRF-Bücherfrau Luzia Stettler, 26. August, 20.00 bis 21.00 Uhr.
Zentrum Paul Klee, Bern, 7. September, 16.30 Uhr, Treffen und Diskussion mit den Autorinnen und Autoren. 19.30 Uhr öffentliche Preisverleihung mit anschliessendem Apéro riche.


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