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Der bittere Geschmack der Erdbeeren

In ihrem Debütroman widmet sich Lorena Simmel, die in Ins aufwuchs und das Schweizerische Literaturinstitut in Biel besuchte, den Erntehelfenden im Seeland. Sie selbst finanzierte sich durch diese Saisonarbeit ihr Studium der Europäischen Literaturen in Berlin, wo sie seit zwölf Jahren lebt.

| Bettina Gugger | Kultur
Simmel
Lorena Simmel legt mit «Ferymont» einen Debütroman vor, welcher die Arbeitsbedingungen der Saisonarbeitendenden in der Schweizerischen Landwirtschaft kritisch hinterfragt. Foto: Nane Diehl

Vor neun Jahren arbeite Autorin Lorena Simmel erstmals als Erntehelferin im Seeland, um ihr Zweitstudium in Berlin zu finanzieren. Sie beschäftigte sich gedanklich mit Arbeitssystemen und begann, die eigenen Erfahrungen auf dem Feld literarisch festzuhalten. Simmel, die in Ins aufwuchs und nach dem Gymnasium das Schweizerische Literaturinstitut in Biel besuchte, blickte plötzlich aus europäischer Perspektive auf das Vertraute. In ihrem Debütroman «Ferymont» verwebt sie die eigenen Eindrücke zu einer Dokufiktion: «Anders als in einer klassischen Reportage, sind meine Figuren Helden», so Simmel im Gespräch mit dem «ARB», «sie tragen die Erzählung».
Im fiktiven «Ferymont», das zwischen Murten-, Bieler- und Neuenburger­see liegt, hat die Protagonistin ihre Kindheit verbracht und findet als Studentin, die mittlerweile in Berlin lebt, für eine Saison wieder zurück, um sich als Erntehelferin zu verdingen.
In den langen Monaten von März bis Oktober taucht die Erzählerin ein in das Leben der Erntehelfenden aus Osteuropa. Kindheitserinnerungen flackern nur am Rande auf, die neue Gegenwart lässt keinen Raum für ausschweifende Gedanken und Träume.
In nüchternem Ton beschreibt die Erzählerin die Arbeit auf dem Feld, in den Tunneln oder in der Aufbereitungsanlage: «Das Seltsame an der Zeit in jenem Sommer war, dass sie insgesamt wie im Flug verging, die einzelnen Stunden … aber nicht vorbeigehen wollten.» Diese meditative Eintönigkeit spiegelt sich in exakten Landschaftsbeschreibungen, die das scheinbar bekannte aus einer ungewohnten Perspektive festhalten.
Die Muskeln schmerzen, die Hände krampfen. «In den Gewächshäusern konnte man schlecht atmen, jedes Mal, wenn man den Mund öffnete, hatte man das Gefühl, in warme Watte zu beissen», so die Erzählerin über die ungewohnten Strapazen. «Man wird irgendwann zur Maschine», erinnert sich Simmel an die anstrengende Arbeit, die morgens um sechs Uhr begann und abends um 17 Uhr endete.
Die Kisten der Erntehelfenden sind mit einer persönlichen Ziffer versehen; wer die höchsten Ernteergebnisse erzielt, erhält einen Bonus, wer etwa Erdbeeren mit Dellen abliefert, wird vor versammelter Mannschaft zur Schnecke gemacht. «Im Roman ist manches Überzeichnet und manches untertrieben», so Simmel über das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion.
Die Protagonistin hat Glück und sie verbringt die meiste Zeit auf dem Hof zusammen mit Daria in der Aufbereitungsanlage. Daria stammt aus der Republik Moldau und verbringt zusammen mit ihrer Familie seit Jahren die Sommersaison auf dem Betrieb.

Ungleiche Leben und Chancen

Nicht alle kommen in den Genuss dieser Arbeit; sie ist weitaus komfortabler als die Arbeit auf dem Feld. Als höhergestellte Arbeitskraft erhält Daria den Auftrag, jeweils die unproduktivsten Erntehelfenden auf eine schwarze Liste zu setzen. Die findige Gerichtsvollzieherin, die neben ihrer rumänischen Muttersprache auch Russisch, Bulgarisch, Polnisch, Englisch und etwas Französisch spricht, setzt abwechslungsweise alle Teammitglieder auf die Liste, um die Schwächsten zu schützen.
Die Erzählerin beschreibt den Patron, Herrn Bescheder, als sympathisch, aber kontaktscheu, während der Zweitchef, Herr Kammerer, echtes Interesse für seine Angestellten aufbringt. Er und seine Frau arbeiten selbst bis zum Umfallen, schliesslich soll immerzu produziert und geliefert werden.
Um Geld zu sparen, backen die Angestellten selber Brot mit dem billigsten Mehl oder sie bessern ihren Stundenlohn von 13 Franken durch Naturalien auf, indem sie Spargel aus dem Kühlhaus klauen. Diese Schilderungen stehen im Kontrast zu den Betrachtungen über das Literaturseminar an der Universität Neuchâtel, das die Erzählerin besucht, um fehlende ECTS-Punkte zu sammeln. Als einheimische Studentin ist sie als Erntehelferin eine Exotin, umgekehrt scheint das intellektuelle Leben nichts mehr mit ihrer Gegenwart zu tun zu haben; sie wird schon bald zu müde sein, um die Seminare zu besuchen.
Während der Frühling in den Sommer übergeht und die Hitze auf dem Feld unerträglich wird, entspinnt sich zwischen der Erzählerin und Daria eine Freundschaft. Bei einem gemeinsamen Clubbesuch wird die Erzählerin auf einen Mann aufmerksam; sein Gesicht ernst, seine Haut braungebrannt. Sie trifft ihn wieder, als sich die Beerensaison dem Ende zuneigt und sie auf den Hof der Kammerer wechselt, wo sie bei der Tabakernte und beim Sortieren der getrockneten Tabakblätter am Fliessband mithilft.
Konrad, so der Name ihres neuen Kollegen, betreibt in seiner Heimat in Polen eine Webseite mit dazugehöriger App, die Informationen über Touren, Outdooraktivitäten und Übernachtungen im regionalen Nationalpark gibt. Zwischen der Erzählerin und Konrad entwickelt sich eine zarte, romantische Verbindung, die im Vagen bleibt.

Freundschaft als Hoffnung

Ein folgenreicher Unfall, resultierend aus der harten Arbeit in den sauerstoffarmen Tunneln, überschattet das nahe Saisonende. Der Roman endet mit der dystopischen Beschreibung des Hühnerverladens zwecks Schlachtung; der Hof der Kammerers verfügt neben der Tabakplantage über eine Masthalle mit 8000 Hybridhühnern. Die Erzählerin beschreibt das Grauen so plastisch, dass man meint, den Amoniak- und Fäkaliengeruch einzuatmen.
Die Welt, die Lorena Simmel in «Ferymont» beschreibt, mutet erschreckend surreal an. Man wähnt sich in einer anderen Zeit oder auf einem anderen Kontinenten, wo Ausbeutung von Arbeitskräften zur Tagesordnung gehört: Beschämend, wie geschickt wir ausblenden, dass auch bei uns Menschen zu einem Hungerlohn bis zur Erschöpfung arbeiten. Oder wie die Erzählerin konstatiert: «Ich beobachtete die Szenerie und dachte, dass das alles schon genau so gewesen sein musste, als ich noch hier gelebt und nichts davon gewusst hatte.»
Während sich der Horizont der Protagonisten unter der ständigen Wiederholung der immer gleichen Arbeit zusammenzieht, halten Freundschaft und Solidarität ihre Hoffnungen aufrecht.

 

«Ferymont», Verbrecher Verlag, 2024. 978-3-95732-580-8


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