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Die Tanzchefin und der Laie
Bern Ballett hat die neue Saison in Frankreich begonnen. Das Ensemble eröffnete Anfang September mit «Don Quixote» das renommierte Tanzfestival «Le temps d’aimer la danse» und erntete Ovationen. In Bern startete die Compagnie mit derselben Wiederaufnahme. Zeit für ein Gespräch mit Isabelle Bischof, der Leiterin von Bern Ballett seit 2022.
Bern Ballett ist Teil der Stiftung Bühnen Bern. Die Compagnie hat 12 Mitglieder, dazu kommen 4 Elevinnen und Eleven. Das Trainingszentrum liegt in einem Neubau direkt neben den Vidmarhallen, grosszügig und hell. Das multikulturelle Berufsensemble ist in der Schweiz von mittlerer Grösse, dynamisch, doch bedeutend kleiner als die Corps des Theaters Basel, Grand Théâtre de Genève oder in Zürich am Opernhaus, wo seit einem Jahr Cathy Marston, ehemalige Leiterin in Bern (2007–2013), die Direktion innehat.
Ein Engagement in Bern ist sehr gefragt: Auf eine ausgeschriebene volle Stelle kommen einige Hundert Bewerbungen, für eine Elevin/einen Eleven 150–200 Bewerbungen aus der ganzen Welt, die sorgfältig geprüft werden. Eine Riesenarbeit. Dabei hilft seit zwei Jahren ein IT-Werkzeug: Lanced.app, das von Wouter Vertogen, einem ehemaligen Tänzer von Bern Ballett, entwickelt worden ist und inzwischen international von zahlreichen Compagnien genutzt wird.
Chancen öffnen
Es geht in Bern darum, nachhaltig in den Nachwuchs zu investieren, um ihm hier wie überall an Tanzcompagnien Chancen zu eröffnen. «Wir nehmen die Jungen an die Hand», sagt Isabelle Bischof. Sie bräuchten die Expertise der älteren Kolleginnen und Kollegen. Denn die Ausbildung, so gut sie sei, vermöge ihnen nicht alles zu geben. Sie müssten Vieles on the job lernen, zum Beispiel Hebefiguren, aber auch den Umgang mit der Arbeitsbelastung. Bern Ballett ist eine kleine Gruppe, alle tragen Sorge zueinander. Es gibt neben dem ordentlichen täglichen Training Angebote in Sportmedizin, in Krafttraining, Regeneration, Physiotherapie oder Osteopathie.
Die Missbrauchsvorwürfe von 2022 hätten die Tänzerinnen und Tänzer wachgerüttelt, sagt Isabelle Bischof. Sie seien sich bewusst geworden, dass Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch alle beträfen. Der seither eingeführte Verhaltenskodex werde gelebt; Sensibilisierungsworkshops seien für alle Mitarbeitenden von Bühnen Bern obligatorisch. Dabei gehe es auch um vielleicht unbewusste Wahrnehmungen, Befürchtungen, die zur Beeinträchtigung der Konzentrationsfähigkeit führen könnten. Und ebenso um den Führungsstil, auch den eigenen. Wichtig sei die gegenseitige Aufmerksamkeit. Sie kann man lernen; sie muss man aber auch leben.
Spitzen-Sport
Tanz ist Spitzensport. Er verlangt alles vom Körper. Die Tänzerinnen und Tänzer haben eine in jungen Jahren spielerische, später – und erst recht ab der Berufsbildung von 16 Jahren an – strenge Ausbildung hinter sich. Nun sind sie volljährig und wollen alles, was ihnen der Bühnentanz während rund 20 Jahren zu bieten hat, ausreizen, bis sie dann, körperlich nicht mehr zu allem fähig, an eine Umschulung herangehen müssen. Dabei unterstützt sie Bühnen Bern auch finanziell.
Doch Tanz ist mehr, als es das olympische Motto «Höher, schneller, weiter» begreift. Im Zeitpunkt des Gesprächs laufen die Vorbereitungsarbeiten für die Koproduktion der Sparten Oper und Ballett von Bühnen Bern für die Barockoper «Dido & Aeneas» von Henry Purcell (1659–1695) bereits seit Monaten. Die Oper wurde im 17. Jahrhundert geschaffen, sie spielt in Karthago nach dem Trojanischen Krieg, einem – von Rom später zerstörten – kulturellen Melting Pot von Menschen jeglicher Herkunft, jeglichen Standes. Die Entstehung der Berner Inszenierung wird im neuen «Theater Journal» (www.buehnenbern.ch) im Detail beschrieben und grafisch festgehalten, vom Startschuss Ende 2022 bis zur Premiere am 10. November 2024. Zur nicht ganz einfachen Geschichte und zur anspruchsvollen Inszenierung gibt es im Oktober eine Matinee und öffentliche Proben.
Kooperation mit Tanz Bielefeld
So leichtfüssig der Tanz wirkt, so hell die Stimmen, so harmonisch die Musik ertönt – bis zur Präsentation ist ein kleines Gesamtunternehmen am Werk, das unter dem Dach von Bühnen Bern tatsächlich produziert. Das ist das Besondere an der Bühnenkunst: Sie braucht das Konkrete und die Festigkeit, um über diese hinaus das Schöne, Gute, Wahre erzeugen, aber auch Ideen vermitteln und Fragen stellen zu können.
Während des Gesprächs probt das Ensemble nach dem Aufwärmen für die Produktion «Fortuna». Felix Landerer und Giuseppe Spota choreografieren, Isabelle Bischof besorgt die Dramaturgie, die eigens komponierte Musik stammt von Christof Littmann. Bern Ballett erarbeitet «Fortuna» zusammen mit Tanz Bielefeld. Fortuna war die römische Göttin des Glücks; von ihr stammt auch der Name des Düsseldorfer Fussballclubs. Es geht um Glück und Zufall, um Gelingen und Verlieren. Elemente des Glücksrads, des Roulettes, grosse Kreise werden das Tanz-Bild prägen. An den Premieren beider Orte – in Bern am 30. Januar 2025 – tanzen die zwei Ensembles. Spätere Vorstellungen gehen in kleinerer Besetzung über die Bühne.
Nachwuchs-Choreografie
Wie geht es weiter mit dem Tanz bei Bühnen Bern? Dank dem Migros-Kulturprozent können die Ensembles von St. Gallen und Bern einer begabten jungen Choreografin und einem begabten jungen Choreografen, beide in der Schweiz basiert, die Chance geben, sich mit je einem eigenen Stück zu erproben. Zwei dieser Kreationen werden voraussichtlich 2026 im Rahmen des Festivals «Steps» gezeigt werden. Ihre Urheberinnen und Urheber erlangen so Aufmerksamkeit. Diese kann ihre weitere Karriere und ihren Weg in eine andere Funktion innerhalb der Tanzwelt fördern. Die Auszeichnung der jungen Künstler ist auch eine Auszeichnung für Bern Ballett.
Gespräch im Kopf
Nach dem Gespräch mit Isabelle Bischof folgte, in Gedanken, ein Selbstgespräch des Journalisten über seine Eignung. Ausgangspunkt: Da wächst ein Kunstprojekt über Jahre, die eigentlichen Proben unter Mitwirkung von Künstlerinnen und Künstlern, die noch nie zusammengearbeitet haben, dauern Wochen, einige Tage Endproben, dann Bühne frei für die Premiere. Anspannung, die alle fast zerreisst. Vorhang, Applaus. Adrenalin, Erleichterung, Stolz auf das Geschaffene, Feiern des Erreichten.
Danach Besprechungen in Zeitungen, in Radio und Fernsehen, in den sozialen Medien: beschreibend, bewertend, verstehend, einfühlsam, gefühlsarm, zustimmend, krittelnd. Die Artikel sind in erster Linie für ein allgemeines Publikum geschrieben, doch sie erreichen auch die Künstlerinnen und die Künstler. Diese lesen die Besprechungen besonders aufmerksam, legen die Worte auf die Goldwaage, konstatieren jede kritische oder auch nur skeptische Stelle, stolpern über Nicht-Gesagtes. Sie haben am aufgeführten Werk lange und mit höchstem Einsatz gearbeitet, sozusagen ihre Seele hineingelegt; sie wissen, was – und vielleicht warum – misslungen ist oder im Gegenteil in besonderer Weise geglückt. Die Journalistin oder der Journalist haben im besten Fall einer Probe beigewohnt, die Einführung besucht, das Programmheft gelesen und – im Fall des Tanzes – mit der Choreografin oder dem Choreografen kurz geredet. Sie waren besser oder schlechter aufgelegt beim Zuschauen. Und sie müssen ihre Texte am nächsten Tag innert Stunden verfassen. Es ist der dritte oder vierte Artikel oder mehr in einer Woche. Die Zeichenzahl ist knapp, viel Zeit und Platz für Feinheiten bleiben nicht. Sie können nichts nachschauen, nicht zurückspulen. Ihre Notizen und ihr Gedächtnis müssen ausreichen. (Das ist, in Klammern, bei der Besprechung eines Buches anders. Ob es eine adäquate Rezension einfacher macht, bleibe dahingestellt.)
Kann unter diesen Umständen eine Besprechung angemessen sein? Und was bedeutet dies? Was verlangt es? Sicher einmal dieses: Das Gesehene und Gehörte soll an dem gemessen werden, was die Künstlerinnen und Künstler beabsichtigen. Wollen sie ein klassisches Werk dekonstruieren, ist die Aufführung daran zu messen, nicht am Klassiker. Eine Komödie ist eine Komödie, eine Tragödie eine Tragödie. Die Gattung bestimmt den Massstab der Rezension mit. Und schliesslich: Gab es offenkundige Fehler, Aussetzer, Patzer?
Die wichtigste Frage, die jede und jeder sich selbst stellen muss: Habe ich als Laiin, als Laie, verstanden? Bin ich sicher, korrekt beschrieben zu haben? Darf ich mir ein Urteil anmassen oder bleibe ich bei kritischem Erleben lieber neutral? Denn fast alle Schreibenden sind – so empfinde ich es – nie auf der Höhe derer, über die sie berichten. Im Grunde müsste man deshalb wohl schweigen. Doch hülfe dies weiter?
Oder gilt eher: Indem man als Laiin oder Laie schreibt, ist man dem Publikum näher und kann immerhin versuchen, etwas auszudrücken, das mit Worten schwer auszudrücken ist. Und man erweist der Kunst die Reverenz.
Stadttheater Foyer, 27. Oktober, 11.00 Uhr, Matinee zu Dido und Aeneas
Weitere Infos: buehnenbern.ch