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«Ezilda Saraceni, Pittura» steht rot auf dem grauen Leinenumschlag des Buchs. Die Lebensgeschichte einer Frau mit italienischer Mutter, in der Schweiz aufgewachsen, in Bern wohnhaft bis heute. Eine Galerie ausgewählter Kunstwerke, ergänzt durch ein Werkverzeichnis sowie persönliche Briefe und Statements von Betrachterinnen und Betrachtern.
Eine Entdeckung: Pittura. Die Bilder aus fünf Jahrzehnten bilden ein Werk. Der Singular Pittura trifft zu. Zu entdecken ist eine malerische Summe, eine Ernte. Das umfassende Verzeichnis lässt einen in kleineren Formaten die Entwicklung der Malerei, die Wahl und den Wechsel der Sujets und Themen nachvollziehen. Die Auswahl der 143 ganzseitig wiedergegebenen Bilder folgt Kriterien, die jede und jeder selber finden muss.
Entstanden sind so ein paar Bilder jährlich. Abgerungen einem bürgerlichen Leben. Noemi Somalvico erkundet die biografischen Linien unter dem Titel «… und dann ist da ein Wind». 1935 kommt Ezilda auf die Welt. Sie wächst in Zürich auf in einer musischen Familie aus Italien. Der in den 1930er Jahren Kafka lesende Schweizer Vater, der Tochter Ezilda Märchen vorliest und sie in Kunstausstellungen mitnimmt. Die in der Schweiz nie ganz heimische aus Italien stammende Mutter. Die Grossmutter, mit der Ezilda sich das Zimmer teilt. Der Umzug nach Bern in die Wohnung an der Belpstrasse. Die Töchterhandels- anstatt der Kunstgewerbeschule. Ungeliebte Büroarbeit und Heirat mit einem italienischen Ingenieur. Eine Ehe, die erst gegen ihr Ende hin gemeinsamer wird. Drei Töchter, der Haushalt.
Badeanstalt, 1987 (S. 57). Bild: zvg
Doch «dann ist da ein Wind». Ein sichtbarer Luftstrom. Tochter Francesca Saraceni erinnert sich: «Sie hat nie ein eigenes Atelier besessen. Wenn wir nachmittags in der Schule waren, hat sie den Küchentisch näher ans Fenster gerückt, um besseres Licht zu haben. Ihre Bilder waren nie ein grosses Thema, sie waren einfach da.» Nahezu ohne Kommentare aus der Familie übermalte Ezilda Saraceni ab und zu Bilder, um Material zu sparen, um es neu zu versuchen.
Die Wortlosigkeit über ihre Malerei ändert sich 1981: Da gelangt ein Bild zu Toni Gerber, dem Lehrer, Galeristen, Kunstsammler. Gerber ist eine informelle Instanz im Berner Kulturbetrieb. Er schreibt der Malerin in Kleinbuchstaben, das Bild «hat viel luft und weite in der ganzen gelösten heiterkeit»; es habe «eine seltene grosszügigkeit – und ich liebe es.»
Steg, 1990 (S. 107). Bild: zvg
Toni Gerber kauft Bilder der nun 46-Jährigen. Nun passiert viel. Ezilda Saraceni stellt in der Altstadtgalerie aus, dann regelmässig in Morges. Sie ist Malerin geworden. Nun hat sie ihr Atelier. Und zusammen mit ihren Töchtern beginnt sie, ihr verstreutes Werk zusammenzusuchen, fotografieren zu lassen. Das Buch «Pittura» vorzubereiten. Es wird das Dokument einer lebenslang ausgeübten Kunst, das Dokument eines noch zu entdeckenden Werks.
Treppe zur Wahrheit, 1991 (S. 87). Bild: zvg
Das Entdecken beginnt, indem man das Buch aufschlägt. Da springen die kräftigen, teils grotesken, teils fein stilisierten Bilder ins Auge, eigenständige Wahrnehmungen der Welt, wie sie ist, und viel mehr noch der Welt in ihrer Unübersichtlichkeit. Einzelne Gemälde erinnern an die «Carceri» von Piranesi, andere wirken naiv wie vom Zöllner Rousseau, weitere sind Erfindungen fein austarierter Raummaschinen ohne scheinbaren Sinn und Zweck. Es gibt Abbildungen des Wohnhauses, Porträts der Töchter, Bilder zu philosophischen Themen Wahrheit), später immer öfter vermenschlichte Häuser, die miteinander kommunizieren. Ein reichhaltiges, vielfältiges, starkes Oeuvre. 2009 schreibt Toni Gerber nochmals: «Sie sind eine gute Malerin, absolut eigenständig. (…) Leicht erträglich sind sie [die Kunstwerke] gewiss nicht und unverbindlich schon gar nicht.»
Was Toni Gerber sah, können wir nun alle sehen und uns freuen, welches Werk im Rahmen eines bürgerlichen Lebens entstanden und neben dem Sorgen für die Familie zum Leben erweckt worden ist.
Zum Schluss für Bernerinnen und Berner: Die Töchterhandelsschule war für viele junge Frauen – nicht nur für Ezilda Saraceni – die Alternative zum Gymnasium und Studium und zur vermeintlich brotlosen Kunst. Wie viele Begabungen sind dadurch verschüttet worden? Ezilda Saracenis «Pittura» belegt, dass es auch anders ging.
Ezilda Saraceni: Pittura, hg. von Francesca Saraceni, Texte von Noemi Somalvico, Fotos der Werke: Ines Studtmann, 2024, 202 Seiten, 143 Abbildungen
CHF 60.00, erhältlich bei der Buchhandlung am Zytglogge.