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«Ich erlebe Gegenteiliges gleichzeitig»

Der Berner Lyriker und Erzähler Michael Fehr fand 2017 zum Blues. Zusammen mit Rico Baumann und Buergi‘s Quest präsentiert er neue Songs, ­inspiriert von seinem neuen Instrument, der Gitarre. Im Zentrum der Songs stehen die klangliche Artikulation und die erzählten Geschichten.

| Bettina Gugger | Kultur
Fehr
Michael Fehr hat neue Songs im Gepäck. Foto: Franco Tettamanti

Michael Fehrs tiefe, kratzende Stimme lässt an Tom Waits denken, wenn er «I’m in trouble» ins Mikrofon raunt. Mit sechs Jahren begann er Schlagzeug und Afrotrommel zu spielen. «Ich hatte schon ganz früh die Vorstellung, dass ich eines Tages etwas mit Rhythmus und meiner Stimme mache», erinnert er sich.
Der Weg zum Blues führte Fehr über das Schweizerische Literaturinstitut in Biel und das Institut für Transdisziplinarität an der Hochschule der Künste Bern, wo er sich mit Performance auseinandersetzte. Er erinnert sich an ein japanisches Taiko-Festival, an dessen Ende ein Schrei gestanden habe. «Dieser Schrei hat Einzug in meine Literatur gehalten.» Seit 2013 veröffentlichte Fehr vier Erzählbände. Er gewann neben anderen Auszeichnungen zweimal den Literaturpreis des Kantons Bern, für «Glanz und Schatten» (2017) erhielt er den Schweizer Literaturpreis.
Michael Fehr arbeitet gerne mit motivierten Leuten zusammen; 2018 beginnt er mit dem Gitarristen Manuel Troller zu experimentieren. Ihre Zusammenarbeit mündet im ersten Bluesalbum, «Im Schwarm», das er zusammen mit Andi Schnellmann (Bass), Julian Sartorius (Perkussion) und Rico Baumann (Perkussion) realisiert und das klanglich an Stiller Has und Einstürzende Neubauten, literarisch an Jean Paul, Robert Walser und Witold Gombrowicz erinnert. Fehr entwirft surreale Welten, er beschreibt Unerhörtes und Lustiges, böse und zärtlich zugleich. «‹Also man nimmt das Rebhuhn und klemmt es zwischen den Beinen ein – richtig fest klemmt man es ein – du könntest es natürlich auch in den Schraubstock klemmen – dann könnte es keinen Wank mehr tun.› – ‹Aber wir legen Wert auf Tradition.›» So beginnt der Text «Ein Rebhuhn auseinandernehmen» aus «Glanz und Schatten», vertont auf dem Album «Im Schwarm».

Alle Kraft liegt im Potenzial

Fehr ist ein aufmerksamer, vielseitig interessierter Zuhörer: «Ich glaube an das Gute in jedem Menschen. Diese Haltung beisst sich damit, dass ich ständig Bomben legen möchte», so Fehr. Er ist von Geburt an schwer ­sehbehindert. Seit er sich erinnern könne, sei seine Wahrnehmung inkonsistent: «Ich erlebe immer Gegenteiliges gleichzeitig.» Aufgrund der Akustik könne er beispielsweise darauf schliessen, ob in einem Raum Personen anwesend seien oder nicht. Seine Annahmen könnten sich aber auch jederzeit als falsch herausstellen. «Dieser Zustand ist eigentlich unaushaltbar. Der Surrealismus ist eine lustvolle Form, damit umzugehen»,
so Fehr, «dadurch erlange ich eine grössere Gelassenheit.»
Vor vier Jahren hielt erstmals Englisch Einzug in Michael Fehrs Texte und seine Stimme ist nun ganz in den Vordergrund getreten. Seine lyrische Mikroprosa verschmilzt mit dem kehligen Blues, der den Tiefen seiner Seele entspringt. «super light» heisst dieses Projekt, an dem er zusammen mit Rico Baumann beständig arbeitet. Der gleichnamige Gedichtband aus dem Jahr 2020 vereint neun lyrische Geschichten, die eine Sphäre des Surrealen beschreiben, die abgekoppelt ist von einer vernünftigen Welt, die wir zu kennen meinen. Verstand und Herz möchten intervenieren, wenn etwa ein Mann das Schlachten einer Katze salopp kommentiert: «es tut mir leid ich bin ein raubtier ich bin im westen geboren salz und pfeffer sind meine gewürze». Die Texte seien zwar kürzer geworden, erzählten aber immer eine Geschichte. Fehr interessiert die Trans­zendenz, der Übergang eines Zustandes in einen anderen.
Mit «super light» trat er auch schon in Indien auf. «Die Leute konnten etwas mit den Texten anfangen. Offenbar haftet ihnen etwas Universelles an.»
Für Michael Fehr liegt alle Kraft im Potential, im Moment, wenn sich das Werk innerlich verfestigt. «Das ist vergleichbar mit der Aperitifstimmung, die ist am schönsten. Was danach kommt, ist meist nicht mehr so spannend».

Neues Instrument

Seit einem Jahr versetzt ihn das Gitarrespielen in diese Vorfreude. Er spielt das Instrument intuitiv, der Artikulationsvorgang sei wichtig, nicht das klangliche Resultat. Daraus entstand der Song «Good mood», den Fehr und Baumann erstmals im Kellertheater Winterthur performten. Fehr spielte seinem Kollegen Fragmente vor, dieser erarbeitete mit seinem neuen, achtsaitigen Instrument den Song. Weitere neue Stücke warten darauf, in die vier Dimensionen entlassen zu werden, im Moment sind sie in Fehrs Kopf und seinen Händen gespeichert.
Neue Songs wird er auch mit Buergi’s Quest mit Raphael Jakob (Gitarre), Antonio Schiavano (Bass), Fabian M. Müller (Keyboard) und Fabian Bürgi (Schlagzeug) performen. «Parkplatz» und «Ammoniak» entstanden während der Coronazeit und sind auf Spotify
zu hören. Seit 2014 lädt Fabian Bürgi ­regelmässig Gäste ein, um mit ihnen ihre Songs und Texte zu reinterpretieren. «Die Songs sind fertig, aber ich kann sie selbst nicht spielen. Buergi’s Quest gibt mir die Möglichkeit, herauszufinden, wie sie klingen, wobei die Musiker mitgestalten», so Fehr. «Ansonsten bin ich immer noch der Gleiche und jedes 50. Mal brillant.»

Radio SRF2 Kultur, 31. Mai, 20.00 Uhr, Live-Radio-Sendung «Passage: Kafka in einem Satz»
Barbière, 8. Juni, 21.30 Uhr mit Buergi’s Quest
Bejazz Sommer, 31. Juli,
mit Rico Baumann
michaelfehr.ch


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