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Rhythmisierte Höhenmeter und der Klang von brechenden Eiszapfen

«Hidden Tracks: Domodossola – Weissmies» von Julian Sartorius überwindet klanglich 3745 Höhenmeter. Auf der Wanderung auf den Walliser Berg sammelte der Klangkünstler, ausgerüstet mit Stereomikrofon und Schlagzeugsticks Klänge von Steinen, Gräsern und Schnee.

| Bettina Gugger | Kultur
Sartorius
Klangkünstler Julian Sartorius liebt das Experiment und beschreitet gerne neue Wege. Foto: Stephan Hermann

Das satte Bouquet von rhythmisch abgeklopftem Metall, Holz und Plastik, begleitet von Hundegebell, vorbeifahrenden Autos und Kirchenglocken bildet den Auftakt einer Wanderung von Domodossola auf 272 Metern über Meer hinauf auf den Weissmies auf 4017 Metern über Meer. Auf dem Album «Hidden Tracks: Domodossola – Weissmies» fängt der Schlagzeuger, Perkussionist und Klangkünstler Julian Sartorius den Verlauf dieser Landschaft klanglich ein.
2021 machte sich Sartorius auf diese 5-tägige Wanderung, ausgerüstet mit zwei Sticks, einem Stereomikrofon und einer GoPro-Kamera. Am letzten Tag begleitete ihn Bergführer Mischu Wirth.
Schon seit seiner Jugend zieht es den umtriebigen Klangkünstler, der Kollaborationen mit Künstlerinnen und Künstlern wie Sophie Hunger,
Sylvie Courvoisier, Gyda Valtysdottir oder Dan Carey eingeht und auch Projekte im Bereich Theater, Film, Literatur und Kunst realisiert, regelmässig in die Berge. Auf einer solchen Wanderung entwickelte Sartorius, ständig auf der Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksweisen, die Idee, «den Weg als Instrument zu benutzen», wie er erzählt. Daraus entstand 2017 sein erstes Reisetagebuch, «Hidden Tracks: Basel – Genève», das klanglich die 200 Kilometer lange Wanderung über den Passo di Pontimia und durch den Jura abbildet.

Neue Wege finden

Sartorius liebt das Experiment. So bestand auf der zweiten Wanderung die grösste Herausforderung darin, genügend Klänge zu sammeln, die er am Computer zu acht Tracks verwebte, benannt nach den jeweiligen Höhendifferenzen. Während die Stadt noch ein üppiges Klangangebot lieferte, dünnte sich dieses mit den steigenden Höhenmetern zunehmend aus. Sartorius vergleicht diese Arbeitsweise mit einem Live-Auftritt: «Es gibt nur diesen einen Moment, der zählt.» Er schöpft gerne aus dem Vorhandenen: Die rhythmisierten Klänge auf «Hidden Tracks» sind klanglich alle unbearbeitet. «Ich liebe die Limitation. Sie macht mich
erfinderisch, neue Lösungen zu entwickeln», so Sartorius über seine künstlerische Strategie.

Kargheit schafft Dichte

Durch die intensive klangliche Auseinandersetzung mit der Landschaft habe er die Natur nochmals bewusster wahrgenommen, gerade die Baumgrenze, den Übergang von Nadelbäumen zu Sträuchern, Gräsern, Moosen hin zur trockenen Gerölllandschaft. Aus dieser Kargheit ab 2000 Meter über Meer entwickelt Sartorius eine treibende Dichte, die sich aus dem Spiel mit Wasser, Gras und Stein entwickelt und in einen stampfenden Rhythmus übergeht, begleitet von Bergdohlen und einer Ziegenherde, deren Glockenklang sich an den Klang des Wassers anlehnt.
Auf dem Gipfel seilte ihn Bergführer Mischu Wirth einige Meter über die Schneeflanke ab, damit er seine Aufnahmen machen konnte. Davon zu hören ist der dumpfe Klang von Schnee und brechendem Eis. Dieser letzte Track, «3500  4000» imitiert die Ruhe, die wir mit dem Gipfel verbinden. Ruhig sei es auf dem Weissmies allerdings nicht gewesen, erzählt Sartorius. Mit den versammelten Bergsteigern handelte er zwei Minuten Stille aus, damit er dem Gipfel seine eigenen Geräusche entlocken konnte. «Die Eiszapfen verändern ihre Tonhöhe, kurz bevor sie brechen», erinnert sich Sartorius an den Klang «der Wildnis auf 4000 Metern über Meer».
Am meisten überrascht habe ihn ein Fenster in Bognanco, dessen kleine quadratische Scheiben alle einen anderen Klang ergaben. Auch ein verlassenes Luxushotel brachte er wieder zum Klingen. Ein besonderer Glücksfall war auch der Helikopter, dessen Propellergeräusch er einfing.
Anlässlich der Plattentaufe wird Julian Sartorius die Aufnahmen live begleiten. «Ich werde sozusagen im Duo mit mir selbst spielen», lacht der Musiker. Im Hintergrund wird er Aufnahmen seiner GoPro-Kamera projizieren – «im Stil einer Diashow».
Die Klänge für die dritte «Hidden Tracks»-Edition hat Sartorius bereits eingefangen – im bolivianischen Dschungel. Mit dem Auswerten der Aufnahmen beginne er allerdings erst im Herbst, schliesslich verändere sich mit dem zeitlichen Abstand nochmals der Blick auf das Material. «Ich behalte die Arbeiten gerne bei mir. Das hat ein bisschen was von Ausbrüten», lacht Sartorius.

 

Dampfzentrale, Bern, 18. Mai, 20.00 Uhr, Plattentaufe
«Hidden Tracks: Domodossola – Weissmies», Everest Records, 2024
juliansartorius.com


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