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Niemandes Hoffnung und Sehnsucht im Ohr

«Wir sind gute Menschen» von «Achtung Niemand», dem neusten Projekt von Jürg Halter und Band wagt den Blick in dystopische Abgründe und verzaubert durch Liebeslieder mit Pop-Charakter. Am Anfang dieses Spoken-Word-Albums stand die Zusammenarbeit von Jürg Halter und Jazzschlagzeuger Fredy Studer, der 2022 verstarb.    

| Bettina Gugger | Kultur
Zehn Jahre nach dem Ende von Kutti MC findet Jürg Halter zur Musik zurück. Foto: Nik Egger
Zehn Jahre nach dem Ende von Kutti MC findet Jürg Halter zur Musik zurück. Foto: Nik Egger

Zehn Jahre nach dem letzten Album von Kutti MC, zieht es Jürg Halter wieder in die musikalischen Gefilde, nachdem er sich in den letzten Jahren der Lyrik, Schriftstellerei und der Bildenden Kunst gewidmet hat. Sein neues Projekt «Achtung Niemand» knüpft weder ans alte Alter Ego an, noch sind die Wurzeln zu leugnen. 

«Du fehlst» entpuppt sich bereits nach dem ersten Hörgenuss als Ohrwurm. Getragen von eingängigen, reduzierten Pianoklängen (Milan Slick), führt Halters Sprechgesang direkt in die dunkle Nacht der Seele: «Sag nicht, dass du an mich denkst, indem du mich vergisst. Sag nicht, du seist da für mich, indem du es nicht bist. Du trägst ein Gesicht, um es zu verlieren, was weiss ich.» Da blutet das Herz, während sich der Geist der Poesie erfreut. 

Dem Album «Wir sind gute Menschen» liegen Halters lyrische Texte zugrunde, die der Jazzschlagzeuger Fredy Studer vertonte. Seine Kollaborationen entstünden meist durch Zufallsbegegnungen, verrät Halter. «Ich verfolge nie einen Plan». Fredy Studer habe er nach einem Konzert auf dem Vorplatz der Reitschule kennengelernt. Dabei sei die Idee entstanden, zusammen eine Ses­sion zu machen. «Fredy Studer war aufmerksam, hat stets das Neue gesucht und Dinge gewagt», erinnert sich Halter. Jazzkomponist Roberto Domeniconi stiess später dazu und so entstanden Anfang 2021 im Studio die ­ersten Stücke. Im August 2022 starb Fredy Studer. «Danach konnte ich nicht gleich weitermachen», erzählt Halter. Schliesslich nahm Luk Zimmermann, Mitgründer von Lunik, der bereits ­eines der fünf Alben von Kutti MC produziert hat, eine gewichtige Rolle als Produzent ein. Er arrangierte die Aufnahmen neu. Gäste wie Stimmkünstler Andreas Schaerer, Elektromusiker Kalabrese, Songwriter und Multiinstrumentalist Milan Slick und Sängerin Prada Nada kamen hinzu. 

«Wir sind gute Menschen» vereint vom Liebeslied bis zur endzeitlichen Anklageschrift eine breite Gefühlspalette; melancholisch, ironisch, wütend und zart sind diese Spoken-Word-Stücke mit Songcharakter. «Irgendwann am Abgrund die Erlösung» schickt einen mit seinen harten, treibenden Beats (Fredy Studer) und dunklen Synthies (Roberto Domeniconi) direkt in den Vorhof der Hölle, tiefschwarz der Text über einen Freund, der sich selbst verloren hat: «… raumgreifend deine geweiteten Pupillen, du stehst über allem schmerzlos, unbesiegbar, im Feuerwasser deiner Augen schwimmt Zorn dahin ...», raumgreifend, diese Verzweiflung angesichts der «Blumen des Bösen», welchen der Freund erliegt. 

Zwischen Weltende und Trost 

Der Titelsong «Wir sind gute Menschen» erinnert an Thomas Ds Solo­album «Lektionen in Demut» aus dem Jahr 2001. Die zartbesaiteten guten Menschen dürften sich schwer tun mit den cineastischen Synthies, die das Weltende heraufbeschwören, schliesslich gib es «kein reines Wasser mehr ...es wir nicht mehr kälter ... Gletscher wachsen nimmer», aber, so spricht Halter, «das haben wir uns verdient: Wir sind gute Menschen». 

Beruhigenderweise liefert er auch gleich den Trost mit. «Vielleicht hilft dieses Lied» handelt von Hoffnung und Freundschaft: «Vielleicht stehst du grad an einer Grenze, weisst, weder ein noch aus, in dir was zerreisst – vielleicht tust du gut daran, einfach loszulassen, denn da kommen bessere Chancen, um zu verpassen». Die reduzierte Musik umschmeichelt den Text, bis die Gitarre (Luk Zimmermann) ein Türchen in neue Sphären öffnet– «vielleicht blickst du grad zum Himmel auf, wo immer du auch bist, gib nicht auf, nimm es wieder mit dir auf». 

So berühren besonders die ruhigen «Lieder», wo sich zwischen süsser ­Melancholie und Sehnsucht Bilder und Assoziationen frei entfalten können, getragen von der behutsamen Instrumentalistik, die sich zuweilen in poppige Trip-Hop-Welten vorwagt wie in «Tiefer in die Nacht», in dem Prada Nada mit ihrem eindringlichen, hauchigen Gesang à la Jane Birkin besticht.

Und natürlich darf auch die Provokation nicht fehlen. «Baby, komm und kuratiere mich» lässt in bester Halter-Manier die «strukturell Gratismutigen» auffliegen, die sich «kapitalismuskritisch gebärden, ohne unfreiwillig auf etwas zu verzichten» und deren Kunst «sich nach Subventionschancen richtet». 

Dieser Song steht programmatisch fürs ganze Album: «Achtung Niemand» lässt sich eben nicht kuratieren und entzieht sich der Einordnung in irgendeine Schublade. Das ist mehr als Spoken Word und Musik, vielleicht ist es Spoken Music – hier singt die Sprache und die Musik spricht. 

Live harmonieren Jürg Halter, Luk Zimmermann (Synthies, Gitarre, Bass), Milan Slick (Synthies, Gitarre, Backing-Stimmen) und Fabian Bürgi (Drums) perfekt zusammen, so als ­wären sie schon jahrelang miteinander auf Tournee. «Das ist vor allem Luk Zimmermann zu verdanken, der das Album als Produzent sehr gut kennt», meint Halter bescheiden, der auf der Bühne einmal mehr beweist, dass er ein begnadeter Performer ist. 

 

Achtung Niemand: «Wir sind gute Menschen». Der gesunde Menschenverand / Sophie Records 2024.

LP, 48 Minuten

978-3-03853-127-2

 

Buchhandlung Stauffacher, Bern, 18. Mai, Konzert. Zeit noch offen.

 

Infos: www.achtungniemand.ch

www.juerghalter.com

menschenversand.ch


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