Skip to main content

-


Anzeige

Anzeige


Wenn es in die Schublade regnet

Grundstimmung Porca Miseria, aber ist da Hoffnung? Das Literatur-Pop-Duo Cruise Ship Misery steuert mit «Brutto Inland Netto Super Clean» neue Abgründe an.

| Mirko Verduno | Kultur
Cruise Ship
Cruise Ship Misery sind Sarah Elena Müller und Milena Krstić, aktuell begleitet von Johannes Werner am Schlagzeug. Foto zvg

Sie sind auf dem Tiefseeboden angekommen. Auf dem Tiefseeboden ist es sehr dunkel. Es ist die Welt der selt­samen Fische, der feuerspeienden Schlangenfische. Da sehen Sie Kraken als Orakel. Ihre Selbstzweifel brauchen hier unten keinen Sauerstoff. Es ist viel dunkler als auf der Welt oben, wo ein Arzt Sie mit Stirnlampe ausleuchtet, «doch bitte unbedingt d Bei höchlagere, es sig doch aues guet. Houptsach wider uftouche», singt Milena Krstic´ im Song «Bestätigung».

Nach Luft schnappen: «Brutto Inland Netto Super Clean» von Cruise Ship Misery im Briefkasten. Es ist mit «Gesamtkunstwerk» beschriftet. Als Gebrauchsanweisung, als Warnung? Werden wir uns darin verlieren, wird sich das Kreuzfahrtschiff darin verfahren? Mindestens dreifachbödig kündet sich das ambitionierte Albumprojekt an: Ein farbenwütiges Buch, darin Krstic´s Liedtexte, je von einer Illustration von Luca Schenardi eingeleitet und von einer Kurzprosageschichte von Sarah Elena Müller eingefangen. Die Musik ist als Downloadcode auf ­einem Zettel beigelegt.

Auf dem ersten kindlichen Rundgang durchs Gesamtkunstwerk könnte man sich in der neo(n)-surrealistischen Bildwelt umschauen: Den Männerkopf anstaunen, seinen aufgesperrten Mund, der eine Schublade ist, darin ein See. In diesen See regnet es rein von der Wolke über dem Kopf. Die Murmeltiere mit purpuren Augenringen, wie sie in der tropfenden Höhle Kristalle rauchen. Einen Hautresten fressenden Vogel im Wald, der sich aus einem Menschenmantel schält.

 

Psychotropes Gesamtkunstwerk

Bei einem anderer Durchgang könnte man vielleicht die Musik abspielen und die Zeilen mitlesen. Oder sich doch besser den Zugang über die Kurzgeschichten erschliessen? Wer mit Sarah Elena Müller, Milena Krstic´ und Luca Schenardi in diese psychologisch-psychedelisch-psychotropen Tiefen abtauchen will, hat Möglichkeiten, darf Neigungen ausleben, braucht etwas Zeit.

Meinen Neigungen entsprechend mache ich alles auf einmal und bin entsprechend verdutzt. Von Schenardis Zeichnungen vernebelt, von Krstic´s ­expressiven Gesangspirouetten angeschwipst und durch Müllers literarische Fenster in den Themenkomplex der psychischen und menatlen «Gefangenschaften» gelockt, «am unteren Ende der Delegationskaskade», wo das  Duo und der Zeichner ihr Werk ver­orten. 

Von Süchten, Störungen und Zwängen handelt dieser Bilderwald, von Dingen, die in einer vom Heimatbegriff heimgesuchten Mundarttraditon eher nicht zum poetischen Korpus gehören. «Als wären wir in der Deutschschweiz verliebt in die Idee, dass unsere Sprache uns künstlerisch wahnsinnig einschränkt, obwohl sie ja als Alltagssprache alles abdeckt», hat Sarah Elena Müller einmal in einem Interview zu bedenken gegeben. 

In Müllers Sprache, die Krstic´ in den Liedern in Dialekt überträgt, hat es Platz für Worte wie «Ambivalenz», «reziprok», «Enzyklopädie» oder auch den «Erdenpudel». Man hört es fast schon rascheln, von hinten links, wo sich die Mundartpflegerinnen und -pfleger mit dem Rotstift in Stellung bringen, blöp blöp blöp das ist doch nicht mein Berndeutsch! Ja, Porca Miseria. Ein grosser komplizierter Misthaufen, das Leben, wenn man sich recht viel fragt und an vergleichsweise recht wenig halten kann – sicher nicht an Authentizitäts- oder Heimatdiskursen oder Korrektes-Berndeutsch-Kursen – aber lassen wir das.

 

Zwischen Tiefseerefugium und Arztbesuch

Steine und Worte sähen sich ähnlich: «Schnell geworfen, leicht verfehlt», heisst es zwischen Tiefseerefugium und Arztbesuch in «Bestätigung». Umso erfreulicher ist der spielerische, tastende Umgang mit den Worten auf «Brutto Inland Netto Super Clean».Enigmatisch führt die Sprache von der Gesellschaft ins innerste Innenleben und zurück, gleichzeitig Alltags- und Büchersprache, gleichzeitig Traum, Lied, Realismus. Offenlegung und Versteckspiel.

Und da sind die besten Klaviersounds aus dem Alleinunterhalterinnen-Keyboard, fadenscheinige Synthie-Vorhänge wie im Halblicht, erklingende Sehnsuchtsakkorde. Jüngst haben Cruise Ship Misery auch auf der Bühne mit dem Schlagzeuger Johannes Werner zusammengespannt. Er hat dem eröffnenden «Bis bald» einen Beat beschert, der dort zupackt, wo die manchmal etwas krämerische Rhythmik der Produktionen brüchig zu werden droht. Und auch Milena Krstic´s Text-Verkörperungen steuern das Pop-Ohr an, sich graziös verbeugend vor den Ornamenten des spätmodernen ­R-’n’-B-Kanons. Und Bässe, erfunden für einen Club, den es so nicht gibt. Das Kreuzfahrtschiff im Seegang, es ist ein durchaus tanzbarer Ort, mit allen zu erwartenden Unfällen.

Und he, Sie, falls Sie noch da sind: Sie wollen sicher wissen, wo jetzt
die Hoffnung stecken soll in diesem von der Misere heimgesuchten «Brutto ­Inland»-Gesamtprodukt? In der ­abschliessenden Verzichtserklärung vermutlich, sich selbst je ganz zu bewohnen. Einen Blick in den Spiegel wagen. Und doch sagen können: «Ich bleibe, was ich bin. Ich liege abseits», wie Krstic´ im letzten Lied, «Dr letscht Ort», singt. 

 

Cruise Ship Misery: «Brutto Inland Netto Super Clean», im Verlag Der Gesunde Menschenversand 2024 erschienen. Buchhandlung Stauffacher, Bern, 24. Februar, 20.30 Uhr, Albumtaufe mit Konzert.

Weitere Infos: menschenversand.ch

sarahelenamueller.ch

lucaschenardi.ch


Ihre Meinung interessiert uns!


Verwandte Artikel


Zwischen den Welten und Lebensalter

Das Kunstmuseum Thun zeigt in seiner aktuellen Ausstellung «Stadt–Land–Fluss» Werke von Gustav Stettler und stellt diesen Werke aus der Sammlung gegenüber. Im Zentrum steht ­dabei die Verbindung von Landidylle und urbanem Lebensraum, ein Spannungsverhältnis, das die lokalen Künstlerinnen und Küns...

Klagelied

Unsere Kolumnistin Alice Galizia entdeckt während einer Zugfahrt das Glück, das genau zwei Minuten und 27 Sekunden dauert.

Die klingende Stille der Welt

Garden of Silence sind neun Musikerinnen und Musiker aus drei Kontinenten. Ihr Klang macht Lust, die Welt akustisch neu zu entdecken.