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 Völkermord oder doch nicht?

Völkermord ist ein juristischer, kein politischer Begriff, betont «Anzeiger»-Kolumnist Marcel Niggli. Damit man von Völkermord sprechen könne, sei die Absicht entscheidend – nicht die Anzahl Toter. Gerade im Kontext des nahen Ostens werde der Begriff falsch verwendet. 

| Marcel Niggli | Politik
Marcel Niggli ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg. Foto: zvg
Marcel Niggli ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg. Foto: zvg

Strafrecht ist wie Fussball: jeder, aber auch wirklich jeder, glaubt genau zu wissen, wie es funktioniert und wo es Anwendung finden soll. Jüngst hat sich das wieder gezeigt (und zeigt sich noch) in der Verwendung des Begriffes «Völkermord», insbesondere im aktuellen Kontext der Krise im Nahen Osten, wo immer wieder mal von «Genozid» und «genozidal» schwadroniert wird. Meist erinnern diese medialen Meinungsäusserungen allerdings an Stammtischgespräche über die richtige Besetzung einer Fussballmannschaft, mit viel Engagement und wenig Sachkenntnis.

Es mag daher vielleicht nicht ganz sinnlos sein, nachfolgend zu erläutern, was denn der Begriff des Völkermords eigentlich bezeichnet. Vorweg sei klargestellt, dass es sich dabei um einen Rechtsbegriff handelt. Da und dort scheint die Vorstellung zu bestehen, das Konzept sei ein politisches oder historisches, entsprechend seien dafür Historiker oder Politiker zuständig. Das ist falsch. 

Der Begriff des «Völkermords» (und das Wort «Genozid») stammt von einem polnischen Juristen jüdischer Herkunft, Raphael Lemkin (1900–1959). Lemkin war schockiert von der weitgehenden Straflosigkeit der Ereignisse, die später als Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich (1915/1916) bekannt werden sollten, bei dem bis zu 1,5 Millionen Menschen getötet wurden. Nach Ende des Ersten Weltkrieges begann er, sich für eine internationale Konvention einzusetzen, mit der Völkermorde sanktioniert werden sollten. Das gelang ihm allerdings erst fast zwanzig Jahre später, als 1948 die UNO die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes beschloss. Eine Konvention übrigens, die erga omnes gilt, also auch für Staaten, die sie gar nicht unterzeichnet haben. Die Völkermordkonvention wurde mit dem sogenannten Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofes im Jahre 1998 präzisiert und erweitert, das auch die Schweiz unterzeichnet hat und das hier im Jahre 2002 in Kraft getreten ist. Dem Römer Statut entsprechen schliesslich die Straftatbestände des Strafgesetzbuches in Art. 264 bis 264n (Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit).

Die Definition von Völkermord ist in allen drei Erlassen (Völkermordkonvention, Römer Statut und Schweizer Strafgesetzbuch) weitestgehend identisch und entstammt – bis auf wenige Kleinigkeiten – direkt dem Entwurf Lemkins aus dem Jahre 1947: Ein Völkermord besteht primär in der Absicht, eine Gruppe von Menschen (definiert durch Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion oder ethnische Zugehörigkeit) als solche ganz oder teilweise zu vernichten, indem Mitglieder der Gruppe getötet werden, oder sie Lebensbedingungen unterworfen werden, die auf ihre Vernichtung hinauslaufen, oder Geburtenverhinderung praktiziert wird oder Kinder der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe überführt werden. Besteht die nötige Absicht, reicht im Prinzip ein einziger konkreter Fall, um Völkermord anzunehmen. Umgekehrt ist auch die Tötung von vielen Menschen ohne diese Absicht kein Völkermord.

Wie leicht zu erkennen ist, liegt die Schwierigkeit des Begriffs in seiner Orientierung auf die Absicht. Eine solche Absicht wird meist nicht vorliegen. Selbst wenn im Rahmen militärischen Handelns sehr viele Menschen getötet werden, begründet das noch keinen Völkermord. Anderes gilt, wenn das Ziel der Vernichtung der Gruppe konkret geäussert wird, wie dies etwa die Hamas bezüglich der Juden immer wieder tut. Sicher aber ist umgekehrt, dass eine terroristische Gruppe in keinem Fall eine Gruppe darstellt, an der ein Völkermord begangen werden könnte. 


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