Skip to main content

-

current

Anzeige


«Das ist kein Plus, sondern eine schwarze Null»

Die Stadt Bern schneidet überraschend besser ab als budgetiert. Links-Grün sieht darin Spielraum für höhere Ausgaben, die Bürgerlichen warnen vor dem Schuldenanstieg. Ein Experte ordnet ein. 

| Léonie Hagen | Politik
Finanzdirektor Michael Aebersold will nicht mehr sparen. Foto: Léonie Hagen
Finanzdirektor Michael Aebersold will nicht mehr sparen. Foto: Léonie Hagen

Die Stadt Bern hat das vergangene Jahr überraschend mit einem Überschuss von 11 Millionen Franken abgeschlossen. Eigentlich hatte sie ein Minus von 35 Millionen budgetiert. Ausserhalb von Links-Grün scheint das Resultat aber kaum für Freudensprünge zu sorgen. 

Das unerwartete Plus geht auf rekordhohe Steuererträge zurück, insbesondere auf höhere Erträge aus Gewinnsteuern, erklärte der Berner Finanzdirektor Michael Aebersold (SP) bei der Präsentation des Ergebnisses. Es seien Einmaleffekte, auf welchen sich die Stadt nicht ausruhen könne. Trotzdem gibt sich Aebersold stolz auf das Ergebnis: «Es zeigt uns, dass wir finanzpolitisch auf dem richtigen Weg sind.» Ein weiteres Sparpaket sei damit nicht nötig. Auch von einer Steuerer­höhung könne man vorerst absehen.

Die Linke lobt sich für ihre «solide Finanzpolitik». Die Stadt müsse weiter investieren, schreibt etwa die Stadtberner SP in einer Mitteilung. Auch für das Grüne Bündnis zeigt positive Ergebnis, dass durchaus genug Mittel vorhanden seien, um Investitionen in Klimamassnahmen stemmen zu können. 

GLP, SVP und FDP warnen in ihren Mitteilungen dagegen vor der zunehmenden Verschuldung. Trotz der rekordhohen Einnahmen sind die Schulden der Stadt im vergangenen Jahr um 55 Millionen gewachsen. Besonders scharfe Kritik gibt es von der FDP. Die Stadt hätte eigentlich ein Plus von etwa 40 Millionen machen müssen, um keine zusätzlichen Schulden zu schaffen, sagt die FDP-Gemeinderatskandidatin Florence Pärli. Rechne man alle Schulden, welche die Stadt aufnimmt, zusammen – also inklusive etwa für Bernmobil, ewb, oder der Abfallentsorgung – so verfüge die Stadt gar über 3,5 Milliarden an Schulden. Das entspreche einem Schuldenwachstum von 85 Millionen pro Jahr in den letzten sieben Jahren und sei «schlicht unverantwortlich» gegenüber künftigen Generationen. 

Argumente «nicht haltbar»

Die Kritik ist nicht neu. Genauso wenig wie Aebersolds Gegenargument: Der Investitionsstau, der nun erst angegangen werde. Im letzten Jahr erreichten neben den Einnahmen auch die Investitionen mit 160 Millionen einen Rekord. Sie stiegen damit stärker als die Einnahmen, so das Argument. Um höhere Schulden komme man also kaum herum. 

Den Investitionsbedarf stelle kaum jemand in Abrede, sagt Pärli. Doch: «Wenn wir weniger unnötig ausgeben würden, müssten wir dafür bedeutend weniger weitere Schulden aufnehmen.» Die Eigenfinanzierung der Investitionen müsse deutlich erhöht werden. 

Für Markus Arnold sind beide Argumentationslinien in Reinform «nicht haltbar». Er leitet das Institut für Unternehmensführung an der Universität Bern und forscht unter anderem zu finanzieller Steuerung von Gemeinden. 

Einerseits sei das formale Beharren auf einer Eigenfinanzierung von 100 Prozent in jedem Jahr gerade bei einem Investitionsstau nicht sinnvoll. Eine höhere Eigenfinanzierung liesse sich etwa auch erreichen, indem nicht investiert werde: «Doch damit ist in diesem Fall kaum jemandem gedient.» Auch die Verschuldung über die stadtnahen Betriebe sei wenig bedenklich, sofern diese wirtschaftlich geführt würden und zahlungsfähig blieben. 

Andererseits rechtfertige der In­vestitionsbedarf an sich noch keine höhere Verschuldung: «Wenn eine Schwimmhalle saniert werden muss, heisst das noch nicht, dass sie auch drei neue Rutschbahnen beinhalten muss.» Eine entsprechende Priorisierung könne hier durchaus weiteren Spielraum schaffen.

Viel wichtiger sei aber, was nach dem berüchtigten Stau komme. Denn der sei irgendwann abgebaut. «Dann müsste mittel- bis langfristig aufgezeigt werden, wie sich der Haushalt von dieser Verschuldungswelle erholen soll», sagt Arnold. 

Stadt verfehlt eigene Ziele

Als Orientierung dafür soll eine Finanzstrategie dienen, welche die Stadt 2021 erstmals erarbeitet hat. Nur: Drei der vier Zielwerte daraus verfehlt die Stadt momentan. Die Erfolgsrechnung ist mit den Verlusten von 2019 und 2020 sowie dem budgetierten Defizit für 2024 über sechs Jahre gerechnet nicht ausgeglichen. Die Eigenfinanzierung liegt bei 61,4 statt der gewünschten 80 bis 100 Prozent; auch die finanzpolitische Reserve liegt mit 106 Millionen Franken noch etwas unter den angestrebten 120 bis 180 Millionen. 

Die Ziele seien von Anfang an ambitioniert gewesen, sagte Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) im vergangenen Herbst. Man habe gewusst, dass sie sich kurzfristig nicht erreichen liessen; zumal sie in den Pandemiejahren erarbeitet worden seien und eben diese angestauten Investitionen die Stadtfinanzen zunächst weiter belasten würden. Das stimme zwar kurzfristig, sagt Markus Arnold: «Aber im Kern geht es um ausgeglichene Finanzen – und die müssen das dauerhafte Ziel sein.»

Umso mehr müsse die Stadt aufzeigen, wie man diese Ziele konkret erreichen wolle: Wie sich laufende Investitionen decken liessen, ohne sich so stark verschulden zu müssen, wie es in diesen «Aufholjahren» nötig war. Das sei momentan aber noch nicht ersichtlich. Der Investitionsstau müsse als Argument für alles herhalten, was irgendwie mit der Schuldenentwicklung zu tun habe. 

In dieser Hinsicht widerspreche sich aber auch die Stadt ein Stück weit auch selbst, so Arnold. Aebersold hatte vergangene Woche gesagt, dass es kein weiteres Entlastungspaket brauche, wenn man sich auf das Nötigste beschränke und priorisiere. «Das kann man nun anders nennen – es kommt einem Entlastungspaket aber recht nahe», sagt Arnold. Die Stadt sehe also selbst ein, dass sie auch mit dem Überschuss noch nicht gut dastehe. Es sei weniger ein Plus als vielmehr eine schwarze Null. 

Konkrete Massnahmen oder Verbesserungen dürfte es allerdings inabsehbarer Zeit noch nicht geben. Für 2024 ist wiederum ein Defizit von 37 Millionen budgetiert – Sparpaket inklusive. Sollte es weitere Entlastungspakete geben, müssten diese vom ausgabenfreudigen Stadtparlament genehmigt werden. 


Ihre Meinung interessiert uns!


Verwandte Artikel


SP will von Graffenried Stadtpräsidium abjagen

 Gemeinderätin Marieke Kruit soll Bündnispartner GFL bei den Stadtpäsidiumswahlen im November herausfordern.

«Wir sollten vermehrt das Gemeinsame suchen»

Mit ihrer angekündigten Kandidatur fürs Stadtpräsidium hat Marieke Kruit (SP) noch zusätzlich Spannung in den Wahlkampf gebracht. Doch wie tickt die bisher eher im Hintergrund agierende Gemeinderätin? Und was sagt sie zur Kritik von Stadtpräsident Alec von Graffenried?

Es lohnt sich nicht, «wegen einer vergessenen Mayo» zu öffnen

Der Nationalrat will Dorfläden ermöglichen, auch sonntags zu öffnen. Doch besteht überhaupt Interesse? Der «Anzeiger» hat sich umgehört.