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«Sexarbeit verschwindet nicht, weil sie verboten ist»

«Xenia – Fachstelle Sexarbeit» setzt sich seit 40 Jahren für die Rechte von Sexarbeitenden ein. Der «ARB» traf Fachstellenleiterin Christa Ammann zum Gespräch über die Aufhebung der Sittenwidrigkeit, Entstigmatisierung und bürokratische Hürden im Sexgewerbe. 

| Bettina Gugger | Politik
Xenia
Christa Ammann leitet seit zehn Jahren Xenia - Fachstelle Sexarbeit. Foto: zvg

«Anzeiger Region Bern»: Christa Ammann, Xenia feiert dieses Jahr das 40-jährige Jubiläum. Wie haben sich die Bedingungen der Sexarbeitenden in Bern im Laufe der Jahre verändert?

Christa Ammann: Die Anerkennung ihrer Arbeit und des Gewerbes mit seinen Eigenheiten kommt sprachlich zur Geltung: Man spricht häufiger über Sexarbeit und weniger über Prostitu­tion. Die Prostituierte ist eine soziale Figur, die man ein Leben lang bleibt, während eine Sexarbeiterin auch mal Feierabend hat. 

In Bern hat sich die Sexarbeit in die Innenräume verlegt, wobei die Stadt Bern theoretisch immer noch eine Strassenstrichverordnung hat, sie wurde soeben revidiert. 

Vor 40 Jahren waren viele der Sexarbeitenden Schweizerinnen, die nach Bern migrierten. Dass die Sexarbeitenden nicht dort arbeiten, wo sie wohnen, ist gleich geblieben, aber die Reisewege wurden länger, internationaler. Die Sexarbeitenden arbeiten an verschiedenen Orten und kürzer. Sie pendeln häufiger zwischen dem Wohnsitz und dem Arbeitsort und es arbeiten mehr Sexarbeitende im Meldeverfahren. Früher war eine Jahresaufenthaltsbewilligung Standard. 

 

Was hat sich seit der Einführung des Prostitutionsgewerbegesetzes 2013 in Bern verändert?

Das Sexgewerbe in der Stadt Bern wurde dadurch massiv reguliert. In der Stadt Bern gingen rund 50 Prozent der Arbeitsplätze verloren, da sie nicht zonenkonform waren. Bei der Einführung liess das Gesetz noch eine fünfjährige Übergangsfrist offen, um die Zonenkonformität herzustellen. In der Stadt Bern lässt sich jedoch nicht Wohnraum in Gewerberaum umnutzen, da die Leerwohnungsziffer zu tief ist. Salons, die teilweise 30 Jahre in einem Wohnquartier existiert haben, mussten 2018 schliessen. 

Kleinsalons, wo zwei bis drei Sexarbeitende gleichberechtigt zusammen arbeiteten, schlossen teilweise auch, weil die bürokratischen Hürden für die Betriebsbewilligung für sie zu hoch waren.

Mit der neuen Regelung für Kleinst­salons wurde das Gesetz wieder etwas sexarbeitsfreundlicher. 

 

Das Berner Prostitutionsgewerbegesetz 2013 zielte auch auf die Aufhebung der Sittenwidrigkeit … 

Den Sexarbeitenden ist es seit 2013 möglich, der Sexarbeit in einem Angestellten-Verhältnis nachzugehen. Der Kanton Bern lancierte damals eine Standesinitiative, um die Sittenwidrigkeit auf nationaler Ebene aufzuheben. Diese Initiative zog man zurück, da man dadurch ein nationales Prostitu­tionsgewerbegesetz hätte machen müssen. Ein Bundesgerichtsurteil von 2022 hob die Sittenwidrigkeit auf nationaler Ebene auf. Seither können die Sexarbeitenden ihren Lohn einklagen. 

 

Wie werden Sexarbeitende besteuert?

Im Kanton Bern werden ausländische Personen quellenbesteuert, wenn sie in einem Betrieb arbeiten, der eine Betriebsbewilligung fürs Prostitutionsgewerbe hat. Dann zahlen sie pauschal 25 Franken Quellensteuer pro Tag, es sei denn, sie verfügen über einen Niederlassungsausweis oder eine B-Bewilligung durch Heirat, dann werden sie zusammen mit dem Ehepartner besteuert.

Wer mit einer B- oder C-Bewilligung oder einem Schweizer Pass arbeitet, muss eine Steuererklärung als Selbstständige ausfüllen und einen einfachen Geschäftsabschluss vorlegen. Bei einer Kontrolle können die Sexarbeitenden deklarieren, dass aufgrund der Arbeitsrealität nicht alles belegbar ist. Die Steuerbehörde akzeptiert das in der Regel. 

 

Was sind die dringendsten Anliegen der Sexarbeitenden?

Das grösste Problem ist der rechtliche Flickenteppich. Sexarbeit wird innerhalb der Schweiz und auch innerhalb des Kantons unterschiedlich behandelt. Die Arbeitsbewilligungen sind in jedem Kanton anders geregelt. Der grösste Teil der Beschäftigten im Sexgewerbe hat keinen Schweizer Pass. Im Kanton Bern gelten Sexarbeitende aus EU- und EFTA-Staaten als unselbstständig Erwerbende im ausländerrechtlichen und steuerrechtlichen Sinn. Es ist nicht möglich, sich im Meldeverfahren, das einen Aufenthalt von maximal 90 Tagen im Jahr in der Schweiz vorsieht, als selbstständig zu melden. 

Im Kanton Zürich hingegen gelten alle Sexarbeitenden als selbstständig, unabhängig vom Betrieb. Es ist für die Sexarbeitenden nicht einfach, zu verstehen, in welchem Kanton welche Regeln gelten. Das schafft Abhängig­keiten. 

 

Woher stammen die Sexarbeitenden, die nur 90 Tage im Jahr in der Schweiz sind?

Wir erfassen keine Nationalitäten. Die Sexarbeitenden mit dieser Arbeits­erlaubnis beraten wir am meisten auf Deutsch, Spanisch, Ungarisch oder Rumänisch. Französisch, Russisch und Englisch kommen eher selten vor. 

 

Kommen Sie bei Xenia auch mit Menschenhandel in Berührung?

Ja, wir kommen in Kontakt mit mutmasslichen Opfern von Menschenhandel und arbeiten auf Wunsch der betroffenen Person auch mit den spezialisierten Stellen und der Polizei zusammen. Täuschung ist hierbei ein klares Kriterium. 

Aber auch eine Person, die in der Schweiz sozialisiert wurde, kann in ein ausbeuterisches, ungesundes Abhängigkeitsverhältnis geraten. Andersrum können Abhängigkeiten auch einen funktionalen Hintergrund haben. In Rumänien z. B. ist Sexarbeit verboten. Ein Zuhälter schützt die Sexarbeitenden dort vor Gewalt, auch vor der Polizei, und vermittelt entsprechende Kontakte. Wird Sexarbeit entkriminalisiert, bestehen am wenigsten funktionale Abhängigkeiten.

 

Xenia spricht sich gegen das schwedische Modell aus, das den Kauf sexueller Dienstleistungen unter Strafe stellt, nicht aber das Anbieten sexueller Dienstleistungen. Warum?

Wir arbeiten mit einem auf Menschenrechten basierenden Ansatz. Amnesty International und Human Rights Watch kommen zum Schluss, dass sich der Zugang zu grundlegenden Menschenrechten wie dem Recht auf Gesundheit und Schutz vor Gewalt verschlechtert, wenn Sexarbeit kriminalisiert wird. 

Einvernehmlicher Sex zwischen erwachsenen Personen ist ausserdem ein Menschenrecht. Die Tatsache, dass Geld fliesst, reicht nicht aus, um den Konsens in Frage zu stellen. Für Sexarbeitende, die aus ökonomischer Not in der Sexarbeit tätig sind, braucht es valable ökonomische Alternativen und Rechtssicherheit innerhalb der Sex­arbeit. 

Rutscht die Sexarbeit ins Dunkelfeld ab, kommt man ausserdem weniger in Kontakt mit den Betroffenen von Menschenhandel. Die Sexarbeit verschwindet nicht, nur weil sie verboten ist, Ausbeutung und Menschenhandel sind bereits verboten.

 

Also ist die Situation in der Schweiz gut so, wie sie ist?

Es braucht eine Entkriminalisierung und keine Regulierung, wie wir sie heute haben. Sexarbeit müsste über Arbeitsrecht geregelt sein und nicht als Sicherheitsproblem verwaltet werden. Das Prostitutionsgewerbegesetz hat bürokratische Hürden und ist kompliziert. Sondergesetze führen zu Abhängigkeiten, zu Reproduktion von Diskriminierung und Stigmatisierung, und erschweren letztendlich auch den Zugang zum Recht. 

 

Können sich Sexarbeitende sozial absichern? 

Im Kanton Bern werden Sexarbeitende ausländerrechtlich und steuerrechtlich als unselbstständig, sozialversicherungsrechtlich jedoch als selbstständig behandelt. Sie haben keinen Anspruch auf Arbeitslosenversicherung, keine Unfallversicherung über den Betrieb und auch keine Krankentaggeldversicherung. 

Sie haben Mühe, ein Geschäftskonto zu eröffnen. Die meisten haben lediglich ein Privatkonto – diese Dienstleistung muss die Post zur Verfügung stellen, da sie den Grundversorgungsauftrag hat. 

 

Wie steht es um den gesundheitlichen Schutz der Sexarbei­tenden?

Die Nachfrage nach ungeschütztem Verkehr kommt in Wellenbewegungen immer wieder auf. Der grösste Teil der Sexarbeitenden ist darüber informiert, wie sie sich schützen können. Letztendlich entscheidet aber auch der Geschäftsverlauf, ob sie den Gesundheitsschutz durchsetzen können oder nicht. 

Bayern hat seit 2003 eine Kondompflicht. Gebüsst werden die Sexarbeitenden. Es gibt keinen Nachweis, dass die Prävalenz von sexuell übertragbaren Krankheiten deswegen niedriger wäre. Auch die Aids-Hilfen in der Schweiz und in Deutschland halten Kondompflicht für nicht hilfreich, wenn es um Prävention geht. Wir teilen diese Einschätzung. 

 

Wie hat sich die Coronakrise auf das Gewerbe ausgewirkt?

Die meisten Sexarbeitenden sagen, der Verdienst bewege sich nicht mehr auf dem gleichen Niveau wie vor Corona. Bei einem schlechten Monat fehle das finanzielle Polster, um diesen zu kompensieren. Seit der Änderung der Verordnung zum Prostitutionsgesetz vom letzten August können Sexarbeitende jedoch zu zweit ohne Betriebsbewilligung zusammen arbeiten. Das kommt den Sexarbeitenden, die mehrheitlich am selben Ort arbeiten, sehr entgegen, dadurch sparen sie Mietkosten, die ein grosser Ausgabeposten sind. 

 

40 Jahre im Dienst der Sexarbeitenden 

«Xenia – Fachstelle Sexarbeit» bietet Beratungen zum Prostitutionsgewerbegesetz, juristischen Fragen, Steuer- und Schuldensanierungsfragen an und leistet Gesundheitsprävention und Unterstützung bei Berufswechsel oder Weiterbildung. Bei der aufsuchenden Arbeit kontaktiert das vierköpfige Team die Sexarbeitenden an ihrem Arbeitsplatz.

Der Verein Xenia wurde 1984 gegründet, um die Akzeptanz der Bevölkerung für die Sexarbeit zu fördern und die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die Beratungsstelle nahm die Arbeit 1986 auf, nachdem einmal wöchentlich erfolgreich ein Treffpunkt für Sexarbeitende angeboten wurde. Seit 2009 ist Xenia für den gesamten Kanton verantwortlich und hat seit 2010 einen Leistungsvertrag mit dem Kanton Bern.

Im Kanton Bern arbeiten schätzungsweise 1150 bis 1800 Personen im Sexgewerbe. Offizielle Zahlen fehlen. Eine Studie vom Bund zählte im Jahr 2015 8000 Arbeitsplätze schweizweit. Eine Studie der Universität Genf von 2009 schätzte die Anzahl Sexarbeitende schweizweit auf 13 000 bis 20 000. (pd)

 

Christa Ammann 

leitet die Fachstelle Xenia seit 10 Jahren. Sie ist Heil- und Sozialpädagogin mit einem Master in Sozialer Arbeit. Davor hat sie in einem Frauenhaus und in der Krisenintervention mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Gerechtigkeit, soziale Ungleichheiten und die Frage nach dem Zugang zu Recht beschäftigten sie schon in ihrer Jugend und haben ihre Berufswahl und Arbeitsbiografie beeinflusst. Sie ist zudem für die AL Bern im Grossen Rat. (pd)

 

24. Mai, 20.00 Uhr, Ono Bern, Jubiläumsfest mit einem Konzert von Bastler und Grautier

22. Oktober, 18.15 Uhr, Kino Rex, Vorführung «Au Coeur du Bois» (2021) von Claus Drexel, danach Podium und Barbetrieb

9. Dezember, 20.00 Uhr, Ono Bern, «6 x Sex» mit Nadja Hermes, Independent Escort, und Christa Ammann.


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