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Ein Mittel gegen «Störungen»
Der Gemeinderat von Ittigen will einem seiner Mitglieder das Departement oder ein einzelnes Geschäft entziehen können. Kritiker sprechen von einem Demokratieabbau. Am 9. Juni entscheidet das Stimmvolk.
Wenn Ittigen am 9. Juni über eine revidierte Gemeindeordnung abstimmt, hat der Grund dafür einen Namen: Xavier Dufour. Der SVP-Mann war 2021 in die Ittiger Gemeindeexekutive eingetreten und hatte dort für eine «anhaltende Störung» gesorgt, so die Formulierung in der Botschaft zur Urnenabstimmung, in der sein Name natürlich nicht auftaucht. Eine solche «Störung» möchte der Gemeinderat in Zukunft ausräumen können. Dass eine einzelne Person den Ratsbetrieb dermassen beeinträchtigen könne, dürfe nicht sein, sagt Gemeindepräsident Marco Rupp (BVI) zum «Anzeiger Region Bern». Die neue Regelung solle im Sinne der Vorsorge solche Fälle in Zukunft verhindern.
Die Vorgeschichte
Dufour sei unbequem gewesen und habe schon in seiner ersten Sitzung als Gemeinderat einiges hinterfragt, war damals in den Medien zu lesen. Mit einer aufsichtsrechtlichen Anzeige beim Kanton gegen seine Ratskollegen stellte er sich schliesslich ganz ins Abseits. Obwohl die Anzeige abgewiesen wurde, versuchte der Gemeinderat, ihn kaltzustellen – per Änderung in der Verwaltungsordnung. Auch dagegen legten Dufour sowie die Ortsparteien SP, Grüne, EVP und SVP Beschwerde ein.
Diesmal entschied die Regierungsstatthalterin für Dufour und gegen den Gemeinderat. Die Anpassung der Verwaltungsordnung verstosse gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, so die Begründung. Ende letztes Jahr trat Dufour schliesslich zurück, ohne Zusammenhang zu den Konflikten im Gemeinderat, sondern aus beruflichen Gründen, wie er auch heute noch
betont.
Nun legt der Gemeinderat dem Stimmvolk eine Änderung in der Gemeindeordnung, also der Verfassung von Ittigen, vor. Demnach könnte der Gemeinderat in Zukunft einem Ratsmitglied «in begründeten Fällen» ein Geschäft oder gar das ganze Departement wegnehmen. Die Gründe für eine solche Massnahme umfassen laut Vorlage «fachliche Überforderung, die Missachtung von Vorgaben und Beschlüssen des Gemeinderats, Konflikte mit den Mitarbeitenden des Verwaltungsbereichs, die Verletzung des Kollegialitätsprinzips und die Gefährdung der Amtsführung». Nötig wäre dafür ein Mehrheitsentscheid des Gemeinderats, das betroffene Ratsmitglied müsste angehört werden, anschliessend in den Ausstand treten und könnte gegen die Massnahme Beschwerde einlegen.
Die Vorprüfung durch den Kanton gab laut Gemeindepräsident Marco Rupp diesmal grünes Licht, er würde die Änderung genehmigen, wenn sie an der Urne angenommen wird. Laut ihm habe die Regierungsstatthalterin beim ersten Anlauf nur kritisiert, dass die konkreten Begründungen fehlten, die einen Entzug des Departements rechtfertigen würden. Diese seien nun integriert, so wie auch die Möglichkeit, gegen die Massnahme auf dem Rechtsweg Beschwerde einzureichen.
Doch auch der neue Anlauf stösst nicht überall auf Akzeptanz. Dezidiert dagegen ist die SVP. Parteipräsident David Spring spricht von einem Demokratieverlust. «Wenn man befürchten muss, entmachtet zu werden, ergibt das eine Angstkultur, in der man sich nicht mehr getraut, kritisch zu sein», ist er überzeugt. Der Entscheid zur Nein-Parole sei an der Mitgliederversammlung einstimmig gefallen.
Kritisch bleibt auch die SP, die Stimmfreigabe beschlossen hat. Seine Partei störe vor allem, dass man beim Ausarbeiten der Vorlage die Ortsparteien zu wenig einbezogen habe, so der Präsident der Ortspartei Beat Jurt.
Ihre Meinung geändert haben die Grünen. Nun, da dem Betroffenen Rechtsmöglichkeiten offenstünden und der Gemeinderat nicht mehr allein und eigenmächtig entscheiden könne, sei die Vorlage akzeptabel, sagt Co-Präsident Christoph Junker.
Klar dafür ist die Bürgervereinigung Ittigen (BVI), die im Gemeinderat die Mehrheit hält. «Für uns ist es so gut», sagt Präsident Hans-Rudolf Ramseier. Da die Massnahme nur in begründeten Fällen, mit definiertem Verfahren und Rechtsweg anwendbar sei, sei nun alles korrekt. «Es kann doch nicht sein, dass der Ratsbetrieb von einer Person so beeinträchtigt wird.» Auf einem Flyer empfiehlt der BVI-Vorstand, ein Ja einzulegen.
Der zurückgetretene Gemeinderat und Jurist Xavier Dufour sieht in dieser Haltung eine Gefahr für die lebendige Demokratie. Er sehe sich nicht als «Störung», sondern habe versucht, Missstände aufzuzeigen, was an der Machtfülle der BVI – sie stellt nicht nur vier Gemeinderäte, sondern auch den Gemeindepräsidenten und den Vizepräsidenten – gescheitert sei. Diese wird auch im Urteil des Regierungsstatthalteramts erwähnt. Mit den aktuell vier Stimmen der BVI und bloss je einer der übrigen Parteien bestehe die «Gefahr des Machtmissbrauchs und der
Willkür».
Zum Beispiel Genf
Dufour stellt denn auch die Rechtmässigkeit nicht nur der konkreten Vorlage, sondern auch der Idee dahinter in Frage. Verschiedene Fälle hätten in der Vergangenheit gezeigt, dass man einer Person, die vom Volk in die Exekutive gewählt wurde, ein Departement lassen müsse. Im Kanton Genf etwa war das so, sogar nachdem Staatsrat Pierre Maudet zugegeben hatte, seine Ratskollegen und -kolleginnen angelogen zu haben, und auf Druck seiner Ratskollegen das Präsidium abgegeben hatte, nachdem ihm diese einen Teil der Aufgaben entzogen hatten. «Wir können nichts weiter machen», sagte der nachfolgende Staatsratspräsident damals im Fernsehen und berief sich dabei auf frühere Gerichtsurteile zu ähnlichen Fällen. Der Rat musste warten, bis Maudet selber zurücktrat.
Eine ähnliche Regelung, wie sie der Ittiger Gemeinderat nun einführen möchte, sei ihm trotz intensiver Recherche in der Schweiz nicht bekannt, sagt der Jurist und Forscher an der Universität Bern, der hier aber als Politiker spreche, wie er betont. In manchen Kantonen gebe es die Möglichkeit, eine Person abzuwählen, allerdings mit der Volksstimme als letztes Wort. Dafür gebe es diverse Bundesgerichtsurteile. «Die Gerichte und die Lehre sagen eindeutig, dass der Entzug aller Dossiers eines Exekutivpolitikers gegen einen wichtigen Grundsatz der Demokratie verstosse», so Dufour. Auch Gemeindepräsident Marco Rupp ist sich keines Präzedenzfalls bewusst. Er habe sich darüber auch nicht kundig gemacht, sagt er.