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Matthias Stürmer: «Alle sollen üben, mit KI zu arbeiten»

Seit der Lancierung von ChatGPT vergeht kaum ein Tag, ohne dass irgendwo das Wort Künstliche Intelligenz (KI) auftaucht. Matthias Stürmer, Professor an der Berner Fachhochschule und Dozent an der Universität Bern, ordnet ein.

| Maximilien Cerutti | Wirtschaft
Matthias Stürmer.
Matthias Stürmer. Foto: Nik Egger

Herr Stürmer, was ist KI überhaupt?

KI beschreibt zum einen das übergeordnete Konzept von Menschen geschaffener Intelligenz, also Maschinen, bei denen man das Gefühl bekommen kann, sie würden denken. Dieses Thema ist nicht neu; Menschen haben sich das schon vor vielen Jahrzehnten überlegt. Neben diesem übergeordneten Konzept gibt es zum anderen seit den 1980er-Jahren den Begriff «Machine Learning». Die Idee dahinter ist, dass man Maschinen trainieren und etwas beibringen lässt, so wie einem in der Schule das Lesen und Schreiben beigebracht wird.

Die Firma hinter ChatGPT ­entwickelt jetzt eine KI, die aus Texteingaben bereits täuschend echte Videos produzieren kann. Ebenfalls entwickeln sie «Voice Engine», eine KI, die nur 15 Sekunden braucht, um eine Stimme perfekt klonen und reproduzieren zu können. Wo geht die Entwicklung hin?

Ich habe das Gefühl, dass alles, was man sich heute in diesem Bereich überlegt, irgendeinmal technisch möglich sein wird. Die Nachfrage bei der Hardware steigt schon jetzt massiv an. Als Beispiel die Firma Nvidia, welche die Grafikkarten herstellt, die gebraucht werden, um parallel eine grosse Menge von Daten für KI zu trainieren. Die Firma hatte vor ein paar Jahren eine Marktkapitalisierung von 100 Milliarden Dollar, mittlerweile sind es über 2000 Milliarden. Meta, die Firma hinter Facebook, hat für ihr KI-Modell bei Nvidia bereits 50 000 dieser Grafikkarten gekauft, wobei eine einzige bereits etwa 40 000 Dollar kostet. Bis Ende Jahr wollen sie 350 000 dieser Grafikkarten anschaffen. Das ist das Zehntausendfache dessen, was sich Schweizer Unis oder Firmen leisten können.

Meta und Nvidia sowie die anderen führenden KI-Unternehmen sind US-amerikanische Unternehmen. Gibt es auch bekannte europäische Namen?

Es gibt durchaus europäische Firmen, die führend bei KI sind. Hugging Face ist so ein Unternehmen. Die haben eine ganze Plattform entwickelt, um KI-Modelle zu veröffentlichen und bewerten. Ihr Sitz ist in den USA und in Frankreich; zwei wichtige Mitarbeitende arbeiten in Bern. Eine weitere europäische Firma ist Mistral AI, die oft in den News war, da sie neue, mächtige KI-Modelle trainiert und freigegeben hat. 

Gibt es auch an den hiesigen Hochschulen konkrete Projekte?

Das Bekannteste ist die «Swiss AI Initia­tive», in der sich die beiden ETHs und einzelne Unis zusammenschliessen, um am Supercomputer Center in Lugano einen Grafikkarten-Cluster mit 10 000 Stück aufzubauen. Sie hoffen, damit in den nächsten Monaten eine wichtige physische Infrastruktur in Betrieb nehmen zu können. Dazu gibt es etablierte Firmen, die begonnen haben, mit KI zu arbeiten.

KI fasst also langsam Fuss in unserer Wirtschaft?

Bisher brauchte man KI im Alltag, um einen Text oder ein Bild zu generieren. Vielfach will man aber genaue geschäftsspezifische Abläufe automatisieren. Da hilft einem ChatGPT wenig. Dazu braucht es dann Firmen, die bestehende oder neue KI für diese Aufgaben optimieren und einbauen. Wir von der BFH haben beispielsweise für das Bundesgericht ein Modell gebaut, das die juristische Sprache «gelernt» hat und deshalb helfen kann, Gerichtsurteile besser zu anonymisieren. Das Modell schlägt Gerichtsschreiberinnen und -schreibern vor, Strassen, Nummern oder andere Informationen zusätzlich zu anonymisieren, um keine Personen zu identifizieren.

Braucht es dann zukünftig noch Juristinnen und Juristen?

Definitiv! KI ist lediglich ein weiteres Werkzeug, womit man lernen muss umzugehen. KI ist wie ein Traktor, der ­einem Bauern das Leben erleichtern kann. Insgesamt ist das eine technologische Weiterentwicklung, die man nicht aufhalten kann. Es sollte jedoch Regulierung geben, um Unfälle zu vermeiden. Oder verhindern, dass Roboter plötzlich die Weltherrschaft übernehmen (lacht).

Apropos Regulierung. Im Februar hat das EU-Parlament den sogenannten AI-Act verabschiedet, der KI regulieren soll.
Ist hierzulande auch so ein Gesetzespaket unterwegs?

Mit dem neuen Schweizer Datenschutzgesetz ist bereits sehr klar geregelt, wie Daten von den Firmen weiterverwendet werden dürfen und was nicht erlaubt ist. Es gibt aber beispielsweise noch keine Vorschriften zur Deklarierung, ob ein Inhalt mit KI generiert worden ist. Man muss dazu überlegen, ob die Wirtschaft sich selbst reguliert, weil eine Firma sonst allenfalls einen Reputationsschaden bei schlechtem Verhalten riskiert, oder ob es ein Gesetz braucht. Das ist so wie als unsere modernen Strassen gebaut wurden und es noch keine Geschwindigkeitslimiten gab. Als es dann plötzlich Autos gab, die danach auch immer schneller wurden, hat man Geschwindigkeitslimiten einführen müssen. 

Gibt es dazu bereits ­Diskus­sionen?

Ja, die gibt es und die drehen sich im Moment sehr stark darum, ob und wie sich die Schweiz dieser EU-Regulierung anschliesst. Der Bundesrat erwartet bis Ende diesen Jahres einen Bericht vom Bundesamt für Kommunikation, der dazu Empfehlungen abgeben soll. Es muss dabei ein sinnvolles Mass an Regulation gefunden werden, das die Innovation nicht einschränkt. Wir sind ja eh schon im Hintertreffen gegenüber den USA und China, auch was die Talente anbelangt. Mein Doktorand hat jetzt an der Uni Bern seine Dissertation abgeschlossen. Zuvor machte er ein Praktikum bei Google, wo er ein Vielfaches an Hardware und Ressourcen zur Verfügung hatte. Für ihn ist es deshalb sehr
attraktiv bei so einer grossen Firma zu
arbeiten. Attraktiver als bei einem kleinen Unternehmen oder einer Uni. 

Sehen Sie die Chance, dass sich aus all dieser Entwicklung ein europäischer oder vielleicht auch schweizerischer Techno­logiegigant daraus entwickeln könnte?

Gigant? Ich bin mir nicht sicher, ob wir das überhaupt wollen. Die Chance wäre aber schon, dass man eine bestimmte Nische finden könnte, wo sich dann eine Industrie daraus entwickeln kann. Da stellt sich auch die Frage, ob man in der Schweiz diese Forschung nicht aktiver fördern und mehr Stellen schaffen könnte, sodass sich noch mehr junge Leute spezialisieren können. Wir haben zum Beispiel im April gerade ein neues Forschungsprojekt gestartet zu KI im öffentlichen Beschaffungswesen und jetzt auch eine neue Doktorandenstelle auf diesem Gebiet. Mit mehr Finanzierung könnten wir noch weitere solche Forschungsstellen für KI schaffen.

Wenn Sie einen Ausblick machen können, wo sehen Sie die Welt und die Schweiz in den nächsten fünf bis zehn Jahren?

Aus meinem Bauchgefühl heraus würde ich sagen, dass sich sicher viele Jobs verändern werden, weil diese Werkzeuge immer benutzerfreundlicher und normaler werden. Wir haben das bereits an den Berner Hochschulen gemerkt, dass die Studis jetzt völlig normal mit ChatGPT umgehen. Schriftliche Arbeiten kann man daher für den Leistungsnachweis nicht mehr schreiben lassen wie noch vor zwei Jahren. Sicher gilt: Alles, was automatisiert werden kann, wird automatisiert. Ausserdem ist da noch ein weiterer Punkt, der mir wichtig ist.

Bitte.

Ich würde allen sehr empfehlen, sich einmal mit den neuen Möglichkeiten von KI zu beschäftigen und mit diesen Werkzeugen anfangen zu arbeiten. Mit ihnen zu üben und die Fähigkeit entwickeln, diese zu steuern. Man redet dabei von «Prompt Engineering», dass man der KI möglichst präzise Fragen stellt, um gute Antworten zu bekommen. Gleichzeitig sollte man sich überlegen, wo der menschliche Faktor in all dem ist. Also komplexe Problemstellungen, wo die Maschine uns Menschen auch langfristig nicht ersetzen kann. Komplexe Probleme lösen, gesellschaftliche Dialoge mit Menschen führen oder kritisches Denken anwenden sind Fähigkeiten, die wir immer brauchen und nicht an Maschinen abgeben werden.


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