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Berner Mehrweggeschirr erobert Europa

Die Firma Recircle will vom «Breitsch» aus nach ganz Europa expandieren. Das Ziel: 5 Millionen Einwegverpackungen täglich einzusparen. Doch hilft das der Umwelt wirklich?

| Tanya Karrer | Wirtschaft
Mit solchen Bildern wirbt Recircle für seine auberginefarbenen Mehrwegschüsseln. Foto: zvg/Recircle
Mit solchen Bildern wirbt Recircle für seine auberginefarbenen Mehrwegschüsseln. Foto: zvg/Recircle

Bern zur Mittagszeit. Die aubergine­farbenen Mehrwegschüsseln der Firma Recircle werden über die Essenstheken gereicht und mit dampfenden Speisen gefüllt. Doch nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Stuttgart, Brüssel oder Paris verwenden Hungrige mittlerweile die Mehrwertboxen aus dem Berner Breitenrainquartier. Das 2016 gegründete Startup streckt schon seit einiger Zeit die Fühler nach Europa aus. «Das Recircle-Businessmodell funktioniert und ist bereit für die nächste Etappe», sagt Jeannette Morath, Gründerin und CEO. Eine entsprechende Finanzierungsrunde läuft. Auch Frankreich, Deutschland und Österreich sollen auf den Geschmack der Lunchboxen kommen. 

Moraths Initiative startete einst mit 24 Schweizer Restaurants, heute beteiligen sich über 2300 Betriebe am Kreislaufsystem. Bei ihnen kauft man das langlebige Kunststoffgeschirr und lässt es immer wieder befüllen. Nach Gebrauch tauscht man den Behälter einfach gegen einen sauberen ein. Wird er nicht mehr benötigt, gibt man ihn zurück – und erhält den Kaufpreis zurückerstattet.

3,4 Milliarden Tonnen Abfall

Die Circular Economy, auf Deutsch Kreislaufwirtschaft, verfolgt das Ziel, Produkte und Materialien möglichst lange zu nutzen und im Umlauf zu halten. Herr und Frau Schweizer sind zwar top im Rezyklieren, sie produzieren im Verhältnis aber auch so viel Abfall, wie kaum ein anderes Land. 

Für das Jahr 2050 rechnet die Weltbank mit einem globalen Abfallaufkommen von 3,4 Milliarden Tonnen. Zurzeit sind es etwa 2,4 Milliarden. Sowohl die Schweiz als auch die Europäische Kommission haben deshalb Massnahmen zugunsten der Kreislaufwirtschaft formuliert. Im Herbst wird in der EU eine aktualisierte Verpackungs- und Verpackungsabfallverordnung in Kraft treten. Bis ins Jahr 2030 müssen ihr zufolge alle Verpackungen rezyklierbar und zehn Prozent davon wiederverwendbar sein. 

Es sind also ideale Bedingungen, auf die Recircle in der Expansion trifft. In der Schweiz spart das Recircle-System gemäss eigenen Angaben bereits 60 000 Verpackungen täglich ein. Auf mögliche kulturelle Unterschiede in anderen Ländern angesprochen, sieht Jeannette Morath vor allem Chancen: «In Deutschland gibt es schon jetzt eine Mehrweg-Angebotspflicht. Dort sind die Konsumierenden sehr affin.» In Italien, obwohl eine Recylingnation, hingegen müsse sie das Prinzip von Mehrweg noch eher erklären. «Es ist spannend zu sehen, wie die jeweilige Wahrnehmung in den Ländern ist.»

Rücklauf ist entscheidend

Nicht immer aber ist Mehrweg die nachhaltigste Lösung. «Für den ökologischen Fussabdruck ist der Rücklauf entscheidend», sagt Rolf Schwery von der Bieler Firma Acting Responsibly. Er berät verschiedene Akteure bei der Durchführung von nachhaltigen Grossveranstaltungen. Seiner Erfahrung nach verlassen Verpackungen, die – wie für Pizzas – besonders praktikabel sein müssten, den Kreislauf besonders häufig. Auch Teller und anderes Essgeschirr. Blieben die Produkte beim Konsumenten, komme dies einem Verkauf gleich und habe wenig mit Circular Economy zu tun. 

Morath hält dagegen, dass Recircle Ziel gerade nicht darin bestehe, dass die Produkte nach einmaliger Nutzung zurückgegeben würden. «Deshalb ist der Kaufpreis relativ hoch angesetzt», ergänzt sie. «Die Produkte sollen genutzt und nicht gesammelt werden.» Wer nicht kaufen will, kann die Behälter auch für sieben Tage über die App mieten. Nicht nur Rücklauf und Nutzung spielen für den ökologischen Fussabdruck eine Rolle. Viele Mehrwegbehälter würden aus Erdölprodukten wie Polypropylen (kurz PP) produziert, gibt Rolf Schwery zu bedenken. In der Natur würden sie sich erst nach hunderten von Jahren abbauen. Umso wichtiger sei es, dass der Grossteil der Verpackungen – als Faustregel gelte über 93 Prozent – im Kreislauf verbleibe. «Ansonsten kann man genauso gut Karton verwenden». Recircle-Behälter bestehen aus Kunststoff. Es sei das einzige Material, dass rezyklierbar und langlebig sei und gleichzeitig Gastronomiestandards entspreche, wird die Wahl auf der Firmen-Webseite kommentiert. Laut Morath wird ein Recircle-Behälter dafür im Durchschnitt 70-mal wiederverwendet. Schon eine 15-malige Benutzung schlage die Ökobilanz eines Einwegbehälters. 

Kurs auf Europa

Ob nun Kreislauf oder Mehrweg – die Grenzen scheinen fliessend – beides zahlt sich nicht nur für die Umwelt aus, sondern auch für Recircle selbst. Seit 2019 ist das Berner Startup profitabel. Für das Jahr 2021 gab es einen Umsatz von 2,5 Millionen Schweizer Franken bekannt. Nun möchte es also die europäischen Märkte erobern. «Das Problem der Einwegverpackungen ist überall in Europa dasselbe», sagt die Gründerin. Sie seien teuer in der Anschaffung und die Entsorgung verursache den Gemeinden und damit den Steuerzahlern hohe Kosten. 

Um sich mit den europäischen Nachbarn zu koordinieren, hat sich Recircle mit weiteren Mehrwegakteuren zur New European Reuse Alliance zusammengeschlossen. Die europäischen Märkte werden derzeit mit vor Ort ansässigen Business Developers erkundet. Moraths ambitioniertes Ziel ist es, bis 2030 ein Netzwerk von 100 000 Partnern aufzubauen, die täglich fünf Millionen Einwegverpackungen vermeiden. Die zentral in Europa gelegenen Lager seien betriebsbereit und könnten neue Partner aufnehmen, lässt sie verkünden. Und: «Wir sind auf Kurs». 


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