Anzeige
Die Hüterin des «Basler Dybli»
Nora Haldemann entspricht nicht exakt dem Bild, das man von einer Briefmarkenexpertin hat. In der Philatelieszene wird die Hüterin der grössten Schweizer Sammlung trotzdem respektiert.
Sie ist 30-jährig, weiblich und überall dort anzutreffen, wo etwas los ist. «Ich bin ein Berner Kulturmensch», sagt Nora Haldemann über sich selbst. Damit entspricht sie nicht dem, was man sich spontan unter einer «professionellen Briefmarkensammlerin» vorstellt, auch das eine Selbstbezeichnung. Doch genau das ist sie.
Als «Sammlungskuratorin Post-und Verkehrsgeschichte und Philatelie» im Berner Museum für Kommunikation betreut sie seit rund einem Jahr die vollständigste und bedeutendste Briefmarkensammlung der Schweiz und die grösste öffentlich zugängliche der Welt.
Zu Hause nicht so ordentlich
Zum Briefmarkensammeln sei sie erst durch diese Arbeit gekommen, erzählt Haldemann. Als Kind sammelte sie Kafferahmdeckeli, privat pflege sie heute keine systematische Sammlung mehr. «Aber ich habe schon viele Sachen. Bücher. Platten, Sächeli – meine Freundinnen helfen mir nicht so gern beim Zügeln.» Auch das Prädikat «ordentlich» würden ihr ehemalige WG-Gspändli wahrscheinlich nicht geben, vermutet sie.
Im Untergeschoss des Museums dagegen herrscht eine kühle und vordergründig graue Ordnung. Jede einzelne Briefmarke, die in der Schweiz je gedruckt wurde, lagert hier in Aktenschränken, total rund dreieinhalb Millionen. Dazu Original-Druckplatten und Entwürfe der Briefmarken sowie Hunderttausende von Objekten aus der Post- und Kommunikationsgeschichte wie Stempel, Uniformen, Spielsachen, technische Geräte, Bürogegenstände. Vieles liegt im externen Depot in Schwarzenburg. Das meiste ist digital erfasst und leicht auffindbar.
Sehr viel Zeit verbringt die Briefmarkenexpertin aber nicht hier unten. Ein Grossteil ihres Jobs besteht aus Büroarbeiten und Kommunikation. «Nein, es ist kein einsamer Job», sagt sie. Sie bespricht sich mit ihrem Stellenpartner, den Restauratorinnnen und Konservatoren, mit den anderen Museumsabteilungen, mit dem Chef, mit der Philatelieabteilung der Schweizerischen Post, mit Besucherinnen des Museums. Fast täglich bekommt sie per Mail Anfragen von der Aussenwelt: die Schülerin, die einen Vortrag halten will, der Journalist, die Wissenschaftlerin, Erben von Briefmarkensammlern.
«Es tut mir schon manchmal weh»
Mitte letztes Jahrhundert sammelten fast jedes Schweizer Kind und viele Erwachsene Briefmarken. Heute sterben die Sammler und Sammlerinnen langsam aus, haben die Sammlungen kaum noch Geldwert, obwohl sie zum Teil sogar als Geldanlage dienen sollten. Auch den Wert «ihrer» Sammlung in Bern, einer der grössten und vollständigsten der Welt, kann sie nicht genau beziffern. Welches die wohl wertvollste Briefmarke ist, weiss sie aber: «Wir haben mit 15 Stück den grössten zusammenhängenden Bogen des ‹Basler Dybli›. Da wir als Museum nichts verkaufen, können wir nur spekulieren, was der einbringen würde.» Vor vier Jahren wechselte ein Zweierbogen für 220 000 Franken den Besitzer, so als Anhaltspunkt.
Den Erben, die mit sorgfältig angelegten Sammlungen zu ihr kommen, rate sie meistens, die Briefmarken einfach zu benutzen, sofern sie nicht gestempelt sind. «Aber es tut mir schon manchmal weh für die Mühe, die darin steckt.»
Interessanter als den Geldwert findet sie aber die Geschichte, die jede Briefmarke in sich trägt. «Es ist spannend, was die Leute zu einem bestimmten Zeitpunkt wichtig genug fanden, um es auf der Welt herumzuschicken.» Jede Briefmarke erzählt etwas über die Zeit, aus der sie stammt. Mit Susanna Orelli, der Gründerin des Zürcher Frauenvereins, schaffte es etwa erst 1945 die erste konkrete Frau auf eine Marke, nachdem vorher nur abstrakte, symbolische Gestalten wie Trachtenmädchen oder Helvetia abgebildet waren. Die Serie musste Orelli noch mit einem Mann teilen. Die erste alleinige Frau war Johanna Spyri, die Autorin von «Heidi» auf einer Serie der Pro Juventute.
Auch Unschönes mitdenken
In den Pro-Juventute-Marken, ältere Semester mussten damit in der Schulzeit noch von Tür zu Tür, um sie zu verkaufen, steckt ebenfalls ein Stück Schweizer Geschichte. Der Markenverkauf half mit, das Programm «Kinder der Landstrasse» zu finanzieren, mit dem Kinder von Fahrenden, insbesondere Jenischen, ihren Familien systematisch und gewaltsam weggenommen wurden, um sie in Heimen und Pflegefamilien ihrer Kultur zu entfremden – für die jenische Gemeinschaft der Schweiz ein Trauma, das bis heute nachwirkt. «Hier geht es darum, auch die jenische Perspektive mitzudenken und zu dokumentieren und dafür Betroffene miteinzubeziehen», sagt die studierte Historikerin Haldemann.
Noch viel mehr Geschichten hat sie zu erzählen: vom Päckchen, das 1984 von der sowjetischen Zensurbehörde in Moskau zurück an den Absender geschickt wurde, und das trotz Neugierde des Museumsteams originalverpackt und versiegelt bleibt. Von den historischen Postautos, die in Schwarzenburg eine eigene Halle füllen, von den Postwägeli, die nicht mehr bei der Post, aber sonst an allerlei Orten im Einsatz sind, von der Postfiliale in Zürich-Wipkingen, die von Autonomen besetzt wurde.
Kein Partykiller
Obwohl sie in ihrem Privatleben kaum Briefmarkenfans begegnet, sei ihr Beruf keineswegs ein Partykiller. «Im Gegenteil. Wenn die Leute hören, was ich mache, wollen sie oft ganz viel dazu wissen. Fast alle haben irgendeine Beziehung zu Briefmarken oder auch zu Postautos. Vielleicht staunen sie, dass ich als junge Frau mich beruflich mit Briefmarken beschäftige, aber eigentlich finden es alle interessant.»
Auch bei den traditionellen Philatelisten, oft älteren Leuten, meistens älteren Männern, sei wenig Skepsis zu spüren. «Vielleicht braucht es manchmal etwas Aufwärmzeit Aber grundsätzlich ist da viel Freude, dass man ihr Thema ernst nimmt.» Bei den alten Sammlern und Sammlerinnen treffe sie oft auf ein grosses Wissen, das sie gern anzapfe. Gut möglich, dass Nora Haldemann, die 30-jährige Briefmarkenexpertin, irgendwann auch zu den älteren Leuten der Philatelieszene gehört. Pläne, den Job zu wechseln, hat sie jedenfalls nicht. «Man weiss nie, was die Zukunft bringt. Aber es fägt sehr und ich habe vor zu bleiben.»