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Zwischen den Hochhäusern kräht Hahn «Köbu»

Zwischen den Hochhäusern des Tscharnerguts in Bern-Bethlehem pflegt Markus Gatti einen kleinen Tiergarten. Wenn jemand reklamiert, weil Hahn «Köbu» zu laut kräht, kommt ­Gattis Lebensmotto zum Zug: «Me muess rede mitenand.»

| Hanspeter Bundi | Gesellschaft
Nina und Markus Gatti mit Eseln und Geissen, die graue ist Bock «Kaiser Lee».
Nina und Markus Gatti mit Eseln und Geissen, die graue ist Bock «Kaiser Lee». Fotos: Nik Egger

Die hellen Stimmen der Kinder aus der Kita. Die Stundenschläge vom Glockenturm. Hühner gackern. Ein Hahn kräht. Ein Hahn? Hier im Tscharnergut? In dieser Überbauung, die vor 70 Jahren nicht nur in Bern auf Skepsis und Ablehnung stiess? Was damals umstritten war, wird heute weit herum als Pioniertat gelobt. 

Ein paar freundliche Worte

Aber was ist mit dem Hahn? Er gehört zum «Tiergarten Tscharni», der Teil des grosszügig angelegten Innenhofes zwischen den Hochhäusern ist. Zum Tiergarten gehören zwei Esel, zwei Kamerunschafe, vier Ziegen, vier Kaninchen, ein Dutzend Hühner. Und eben: der Hahn. «Manchmal reklamiert jemand deswegen. Doch ein paar freundliche Worte reichen meistens, um die Situation zu beruhigen», sagt Markus Gatti. Auch Markus gehört zum Tiergarten. Er ist zwar kein Streicheltier, und er sieht auch nicht sehr kuschelig aus mit seinen wilden Tattoos und den abgeschabten Jeans. Doch er ist es, der die Tiere pflegt. Er sammelt Mist und Futterreste ein, legt die Nachtboxen mit Streu aus, oder er steht einfach da, schaut seinen Tieren zu, wechselt einige Worte mit den alten Leuten und beantwortet die Fragen der Kinder, wenn sie bei einem Kitaspaziergang vorbeikommen. Er ist Teil dieser kleinen Welt zwischen den hohen Häusern. Er gehört zum Inventar. Darf man dem so sagen? «Aber sicher», sagt er. «Nach 35 Jahren gehört jeder zum Inventar. Wenn er es gut macht.» Seine Tochter Nina lächelt zu ihm hin, leicht spöttisch und sehr bewundernd.

Der Miststock dampft in der winterlichen Kälte, als ich die beiden treffe. Zwischen Tannästen, die Markus ihnen zum Knabbern in die Weide gelegt hat, stehen zwei Esel. Sie stehen mit hängenden Köpfen, was bei Eseln immer ein wenig traurig wirkt. Die Ziegen wissen nicht recht, ob sie draussen oder drinnen sein wollen. Bei den Kamerunschafen steht eine Mutter mit ihrem Kind. Lange stehen sie da. Dann will das Kind weiter zu den Hühnern und den Kaninchen und zu Köbu (die Hähne im Tscharni heissen immer Köbu). Einer der Chüngel  jagt einem Huhn nach. Das Kind jubelt, und Markus Gatti freut sich, wie viel Zeit sich die beiden für die Tiere nehmen. «Meine Tiere», sagt Markus. Um seine Beine streicht eine Katze, die ihm irgendwann einmal zugelaufen ist und die mit den Jahren  dick und fett wurde.

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Die Geissen (Zwergziegen) haben keinen Namen.

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Seidenhahn Köbu.

Zeitkapsel aus den 50er-Jahren

Der Pavillon mit den Nachtboxen und der winzigen Werkstatt ist wie eine Zeitkapsel aus den 50er-Jahren. Da sind alte Werkzeuge, Futterfässer und angebrochene Dosen mit Rostschutzfarbe. An der Wand hängt ein alter Warmwasserboiler und ein ebenso altes Waschbecken. Gleich bei der Eingangstür hat es einen kleinen Glaskasten. Ich kann den Inhalt nicht genau erkennen. «Mein Vater», sagt Markus und deutet auf die Urne mit der Asche und auf die Baseballmütze, die sein Vater immer trug, wenn er stundenlang, tagelang vor dem Pavillon sass, um den Tieren und den Kindern zuzuschauen. «Jetzt ist er dort, wo er immer sein wollte», sagt Markus. «Hier im Tiergarten.» Über allem liegt der Geruch von den Tieren. Der Gestank, würden andere sagen. Man meint, man müsste auch noch die alten Stumpen riechen, an denen der Vater immer kaute und saugte, doch Markus raucht Zigaretten, die er selber dreht, um zu sparen.    

Administrativ bzw. organisatorisch sieht es mit dem Tiergarten so aus, dass Markus Gatti von den Hausverwaltungen als Tierpfleger angestellt ist (30%) und auch für Sauberkeit und Ordnung im Ladenzentrum sorgt (40%). Damit kann er knapp, sehr knapp leben. «Mit andern Worten, meine finanzielle Situation ist prekär», sagt er. «Aber ich habe das Glück, dass ich für etwas bezahlt werde, das ich gern mache.»

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Die Zwergkaninchen kuscheln.

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Die Esel Lucky und Lina.

Gemobbter Geissbock

Unterstützt von Nina, die ihm die Stichworte liefert, erzählt er vom Kaiser Lee, dem Geissbock, der genau hier per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht wurde. Er erzählt vom «Koloss», einem andern Bock, der von den Geissen so gemobbt wurde, dass Markus ihn im Hühnerhof platzieren musste. Dort freundete sich Koloss mit einem der Kaninchen an. Die beiden folgten einander auf Schritt und Tritt. Ihre Beziehung war so eng, dass sie in der gleichen Woche starben, zuerst der Bock, dann der Chüngel. Markus erzählt vom kleinen Zicklein, das er in seine Wohnung im 18.Stock aufnahm und mit der Flasche aufzog, weil die Geissenmutter tot war. 

Er erzählt aber auch vom Marder, der im Hühnerhaus ein Blutbad anrichtete. Von Füchsen, die sich hie und da ein Huhn holen. Es sind Geschichten aus der Natur. Ein wirklich grosses Problem aber, sagt Markus, sei das Füttern. Wie an den Seeufern oder auf den Plätzen der Stadt gibt es auch im Tscharni Menschen, die unbelehrbar darauf aus sind, die Tiere zu füttern. Aus Mitgefühl vielleicht. Oder weil sie die Aufmerksamkeit der Schafe und Ziegen brauchen. Oder auch nur, um das Brot nicht wegwerfen zu müssen. Markus sagt es gern, oft, auch hier im «Anzeiger»: «Bitte, bitte nicht füttern. Brot ist Gift für die Tiere.»

Unschön ist auch, dass er vor dem Stall hin und wieder einen Korb mit einem Meerschweinchen oder einem Hamster findet. Findeltiere, sozusagen. Er fragt sich, warum die Menschen in solchen Fällen nicht offen zu ihm kommen und ihn um Rat fragen. «Me muess rede mitenand», sagt er. Er wiederholt es im Verlauf unseres Gesprächs einige Male. Manchmal bekommt er Besuch von der Flurpolizei. Irgendjemand hat anonym eine Anzeige gemacht, und sie kontrollieren die Gehege, die Tiere, die Stallboxen. «Alles bestens», sagen sie und ziehen mit einer Entschuldigung wieder ab. Auch in diesen Fällen fragt sich Markus, warum die Leute ihn nicht fragen, warum das Schaf hinkt oder der Esel Haare verliert. «Miteinander reden, statt zur Polizei zu laufen!»

Ein «Tscharni-Giel»

Markus sagt von sich, er sei schon immer ein Tscharni-Giel gewesen. Seine Eltern wohnten hier, als er ein Säugling war. Auch später, als seine Eltern ein paar Meter weiter in ein Haus einzogen, gehörte das Tscharni zu seiner Welt. Der Hartplatz, der Schlittenhügel, auf dem damals noch regelmässig Schnee lag. Der Kiosk und auch der kleine Tierpark. Nach einem Abstecher ins Liebefeld, wo es ihm nicht gefiel, kam er als Abwart ins Tscharnergut zurück. Das war vor 35 Jahren.

Die Leute haben ihn gern, den sanften Markus, der wie ein ganz Wilder aussieht, ein Rocker vielleicht. «Ich hatte nie einen Töff», sagt er. «Ich wäre viel zu schnell unterwegs, und das wäre gefährlich.» Manchmal, wenn er seine Tätowierungen anschaut, stellt er sich ein Leben vor, das extremer wäre, aufregender, gefährlicher. «Aber das sind Träumli», sagt er. «Hier im Tscharni bin ich am genau richtigen Ort.» Er hofft, dass er die Arbeit mit den Tieren über das Pensionsalter hinaus machen kann. Er will die Begeisterung der Kinder miterleben, wenn sie die Lämmer oder die Zicklein sehen, oder das Eselfohlen, das für den Sommer 2025 geplant ist. Es wird für einige Wochen und Monate eine ganz besondere Attraktion sein, nicht nur für die Kinder, auch für die Erwachsenen, für seine Tochter Nina und ganz besonders für ihn, Markus Gatti, Pfleger im «Tiergarten Tscharni» im Westen der Stadt Bern.


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