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«Das Gesundheitswesen gerät in eine Sinnkrise»

Der Hausarzt Michael Deppeler aus Zollikofen setzt sich für eine interdisziplinäre Grundversorgung ein, die auf Prävention und den Erhalt der Gesundheit setzt. Wenn auf diese Weise weniger Leute in die Hände der Spitzenmedizin gerieten, würde das Gesundheitssystem günstiger. 

| Adrian Hauser | Gesellschaft
Michael Deppeler in seiner Praxis in Zollikofen. Foto: Adrian Hauser

Herr Deppeler, Sie sind der Meinung, dass die Hausärzte keine Lobby haben. Warum?

Michael Deppeler: Die Hausärzte sind nicht so gut organisiert wie beispielsweise die Bauern oder die Pharma­industrie. Zwar gibt es vereinzelt Hausärzte in der Politik, aber noch viel zu wenig, und deshalb sind unsere Anliegen auch viel zu wenig sichtbar. 

Was bräuchte es denn, dass die Grundversorgung gestärkt werden kann?

Man müsste die Grundversorgung als Ganzes betrachten und aufhören, in einzelnen Gärtchen zu denken. Doch die interprofessionelle Zusammen­arbeit wird nicht bezahlt. Alles, was ich alleine in meinem Sprechzimmer mache, wird bezahlt. Dasselbe gilt beispielsweise für die Spitex. Je mehr diese innerhalb kurzer Zeit in ihrem angestammten Bereich abrechnen kann, desto mehr Gewinn erzielt sie. Doch man müsste auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit finanzieren. Das würde aber auch bedeuten, dass sich die Grundversorgenden als Einheit verstehen und beispielsweise gemeinsam ein Tarifmodell entwickeln.

Wie kann man ein Umdenken erreichen?

Sehr viel würde man wahrscheinlich bereits erreichen, indem man vermehrt auf eine gemeinsame Aus- und Weiterbildung setzt. Man könnte sich aber beispielsweise überlegen, ob man einen Bachelor in der Grundversorgung schaffen will. Dabei könnten alle Berufsgattungen der Grundversorgung ein erstes Studienjahr oder auch länger gemeinsam absolvieren. Danach könnte man sich für eine weiterführende Spezialisierung entscheiden. 

Was würde sich mit einer stärkeren Grundversorgung am ganzen Gesundheitssystem verändern?

Mit einer verstärkten Grundversorgung könnte man mehr auf Gesundheitsförderung und Prävention setzen, mit dem Ziel, dass die Leute weniger ins Spital oder im Alter später in ein Pflegeheim gehen müssen. Wenn man pro Patientin oder Patient ein bis zwei Spitalaufenthalte pro Jahr verhindern könnte, würde man damit mehrere Tausend Franken sparen. 

Dies würde das Gesundheits­system günstiger machen?

Ja, es würde das ganze System eigentlich auf den Kopf stellen, indem der Lead nicht mehr bei der Spitzenmedizin ist. Heute sagt die Spitzenmedizin uns Grundversorgenden eigentlich, was wir zu tun haben. Wenn nun aber die Grundversorgung den Lead hätte mit dem Ziel, die Patientinnen und Patienten möglichst gesund zu erhalten oder so schnell wie möglich wieder autonom werden zu lassen, sodass sie möglichst wenig medizinische Versorgung brauchen, würde das den Fokus des Systems verschieben.

So müssten auch weniger Krankheiten behandelt werden.

Ja genau. Im Moment ist es aber leider so, dass die meisten Akteure im Gesundheitswesen mit der Behandlung von Krankheiten Geld verdienen und nicht mit der Förderung der Gesundheit. Je mehr Kranke und Krankheiten es gibt, desto mehr Geld wird verdient.

Also ein Systemfehler.

Ich finde, das Gesundheitssystem ist fehlerhaft. Doch den Fokus zu verschieben, macht vielen Akteuren Angst. Weil man erstens nicht so genau weiss, ob dies dann auch wirklich funktioniert, obwohl es eigentlich verschiedene Studien gibt, die dies bestätigen. Und zweitens würde man auf diese Weise vielen etwas wegnehmen, die heute vom System profitieren.

Bräuchte es auch ein Umdenken bei den Krankenkassen?

Ja, obwohl ich nicht so genau weiss, was die langfristig eigentlich wollen. Wenn die Kosten steigen, gehen einfach die Prämien rauf. Das wird nicht selbstkritisch hinterfragt. Als Arzt stelle ich fest, dass die Krankenversicherer immer mehr Kontrollen machen, um herauszufinden, ob jemand betrügt. Das Krankenversicherungsgesetz besagt, dass eine Massnahme wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein soll. Zurzeit wird vor allem die Wirtschaftlichkeit überprüft, und man will damit die schwarzen Schafe erwischen. Das führt zu einer Misstrauenskultur, die niemandem hilft. Es ist zudem schwieriger, die Wirksamkeit und Zweckmässigkeit zu überprüfen. Wie kann ich beispielsweise messen, was für Auswirkungen es hat, wenn ich mit jemandem ein paar Minuten länger über Gesundheitsförderung spreche? 

Das System will die Leute bei den Spezialisten haben?

Es geht um wirtschaftliche Interessen. Die Hausärzte und Hausärztinnen sind die grösste Masse. Wenn man Tausende von Hausarztpraxen im Preis runterdrücken kann, springt mehr raus, als wenn man beispielsweise 50 Urologen im Preis drückt. Für Santésuisse bin ich dann ein guter Arzt, wenn ich alle Patientinnen und Patienten nur fünf Minuten sehe und dann zu einem Spezialisten oder einer Spezialistin weiterschicke. Doch eine Vollkostenrechnung wird nicht gemacht. Es wird nicht untersucht, ob ein einzelner Patient wirklich billiger ist, wenn er schneller zum Spezialisten geht.

Sie sagen, dass die Leute kränker aus den Spitälern kommen, als sie reingehen. Warum?

Die Fallkostenpauschale besagt, dass man nur pro Krankheit abrechnen darf. Je mehr Krankheiten also jemand hat, desto mehr Geld erhält man pro Fall von den Krankenkassen. Es gibt Leute, die mit viel mehr Diagnosen aus dem Spital kommen, als sie reingingen. Das ist eindeutig eine Folge der Fallkostenpauschale. Es werden so viele Diagnosen aufgelistet wie möglich, auch wenn diese gar nicht relevant sind. Diese zusätzliche Fragmentierung auch in den Diagnosen macht das System noch komplexer und unübersichtlicher. 

Machen die wirtschaftlichen Interessen das Gesundheits­system kaputt?

Ich finde ja. Und ich glaube nicht, dass wir in erster Linie auf ein finanzielles Problem zusteuern. Denn Geld ist meistens genug da, die Frage ist nur, wer bezahlt. Das Gesundheitswesen gerät aber zunehmend in eine Sinn­krise. Viele Fachkräfte springen ab, weil sie sich während der Ausbildung eigentlich etwas ganz anderes vorgestellt haben, als sie danach tun. Sie verbringen immer mehr Zeit mit Büro­arbeiten, statt mit der Pflege und Behandlung kranker Menschen.

Zur Person: 

 

Der Hausarzt Michael Deppeler betreibt in Zollikofen mit «Salutomed» eine interdisziplinäre Hausarztpraxis mit rund 30 Mitarbeitenden. Er engagiert sich bei Initiativen wie «xunds grauholz» oder «dialog-gesundheit Forum Zollikofen». Beide Vereinigungen zielen darauf ab, die berufsübergreifende medizinische Grund­versorgung in der Region zu stärken und die Gesundheits­kompetenz der Bevölkerung zu erhöhen.


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