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Von der Exilglarnerin zum Mätteler Urgestein

Rosmarie Bernasconi begleitet die Matte seit über dreissig Jahren mit Büchern, Quartierszeitungen und astrologischen Beratungen.
Den Berner Dialekt hat sie nie gelernt – und ist doch fester Teil des Quartiers geworden. 

| Léonie Hagen | Gesellschaft
Rosmarie Bernasconi kennt ihr Quartier in- und auswendig – zumindest bis zum alten «Mühlirad». Foto: Léonie Hagen

Rosmarie Bernasconi erinnert sich gut an die Hochwasserzeiten in der Matte. Sie steht am Aareufer hinter der Mattebrennerei und zeigt auf die Nydeggbrücke; an diesem Nachmittag ist sie fast leer. Damals aber sei die Brücke «bumsvoll» gewesen mit Schaulustigen, die auf die überschwemmten Mätteler hinuntersahen. «Wir kamen uns vor wie eine Horde Affen im Gehege», erzählt Bernasconi. 

Es ist ein Moment, der die distanzierte Faszination für das abgeschottete Kleinstquartier deutlich macht wie kaum ein anderer. Rosmarie Bernasconi, bald 70 Jahre alt, Sternzeichen Jungfrau, hat unzählige solcher Momente gesammelt und verewigt. 

Die gelernte Kauffrau, Verlegerin und Astrologin lebt seit Jahrzehnten im kleinen Quartier mit den schmucken Häusern, Kopfsteinpflastern und hohen Mieten. Hier, an der Schifflaube, liegt Bernasconis Buchhandlung «Einfach Lesen». Hier geht das Quartier ein und aus. Sternzeichen hin oder her, Bernasconi findet immer eine Antwort: «Meine Ärztin hat gemeint, ich hätte eine psychologische Buchhandlung.»

Bernasconis Geschichte in der Matte beginnt in den 80er-Jahren. Dann lernt die gebürtige Glarnerin ihren Partner und späteren Ehemann Peter Maibach kennen. Dieser war in den 70er-Jahren als Student in das ehemalige Arbeiterquartier gezogen. 

Vom Studiquartier zur «Nachtmatte»

Auf die Studierenden folgen in den 1980er-Jahren Künstler und Kreativ­büros; Ende des Jahrzehnts kommen Nachteulen dazu. In dieser Zeit pendelt Bernasconi noch aus dem Aargau in die Stadt. Erst 1991 zieht sie endgültig in die Matte. Ihr Partner warnt sie vor, die Mätteler seien bekannt für ihre ­eigentümliche Sturheit gegenüber allen Nicht-Alteingesessenen. Bernasconi winkt ab: «Wenn du in einem 1500-Seelen-Dorf im Glarnerland aufwächst, kennst du diese Muster mehr als gut genug.» Sie findet rasch Anschluss, auch ohne sich den Berner ­Dialekt anzueignen. 

Bernasconi gefällt die Nähe zur Aare, sie mag deren «Energiefluss» und den quartierlichen Umgang mit der ­Naturgefahr. Die Plätze am Wasser haben es ihr angetan; das EWB-Känzeli zum Beispiel, wo Eingeweihte bei starken Regenfällen jeweils prüfen, wie hoch das Wasser steht. Oder diese Gasse hinter dem Mühlirad, in der man zur Nydeggbrücke hochsieht. Es sind Kraftorte, die Bernasconi über die Jahrzehnte hinweg immer wieder aufsucht.

Eigentlich ginge es nach dem alten Mühlirad noch einmal um die Kurve; gerade mal drei Strassen ist die Matte gross. Und doch hört das Quartier für Bernasconi hier schon wieder auf. «Weiter hinten» sei sie fast nie, erzählt sie. Umso mehr achte sie darauf, das Gewerbe dort hinten in der Quartierszeitung, dem «Mattegucker», nicht stiefmütterlich zu behandeln. 

«Mattegucker»

Die Quartierszeitungen gehören zu den längsten Publikationen in Bernasconis Eigenverlag. Anfangs habe sie noch versucht, sich als Kauffrau durchzuschlagen. «Aber ich kam immer ins Kreuz mit meinen Chefs», sagt sie und grinst. 1996 macht sie sich mit einem eigenen Verlag selbstständig: «Astrosmarie», aus dem ein Jahrzehnt später «Einfach Lesen» wird. Zuerst gibt sie vor allem Bücher heraus: Romane ihres Partners und eigene Kurzgeschichten. Auch über die Leute in der Matte.

Diese wird um die Jahrtausendwende belebter. Ganz Bern pilgert an die Aare, um bis in die Morgenstunden zu feiern. Auch Bernasconi ist dem Wandel nicht abgeneigt. Sie geht oft selbst in den legendären Broncos-Club und hilft mit Quartierfeste zu organisieren. Etwa mit Florian Ast, der für ­einen rappelvollen Mühlenplatz sorgt: «Und wir vom OK standen im Schulhaus und bibberten beim Gedanken daran, was alles schieflaufen könnte …»

Nach dem Hochwasser

Zum Nachtleben gehört aber auch der Kater. Die Durchmischung im Quartier leidet unter dem Lärm und den Umständen. Eine Zeit lang stellte sich gar die Frage, ob die Schule schliessen soll. «Es gab einfach zu wenig Kinder», sagt Bernasconi. 

Einmal mehr ist es das Wasser, das den Wandel beschleunigt. Mit dem Hochwasser von 2005 kommt es im Quartier erneut zu vielen Sanierungen. Bernasconi eröffnet ihre Buchhandlung und beginnt, neben Büchern auch Zeitschriften zu drucken. Sie produziert den Sterngucker, eine astrologische Zeitung, und später die gewerb­lerische «Mattezytig», den jetzigen «Mattegucker».

Zum Leben reicht es

Bernasconi findet Freude daran, ihre Quartiersleute auszufragen. Sie habe sich immer als Teilzeitangestellte gefühlt, erzählt sie. Vom Buchhandel über die Gestaltung von Büchern bis hin zu astrologischen Beratungen – zum Leben reicht es für Bernasconi. 

Gleichzeitig tut sich auch im Quartier einiges. Nach jahrzehntelangem Tauziehen wird der Schwerverkehr weitgehend aus der Matte verbannt, der übrige Verkehr mit Pollern beruhigt. Damit beruhigt sich auch die Nachtmatte. Seine Bands könnten nachts nicht mehr heimkehren, klagt etwa der Broncos-Chef 2014, bevor auch er seinen Club schliesst. Die Nachtschwärmer ziehen weiter; an ihre Stelle treten Familiengärten und Spielplätze. Die Schule bleibt offen.

Mit dem Wanderrucksack

Bernasconi läuft die Gerberngasse entlang, am lauten Schulhausplatz vorbei, vorbei an ihrem Geschäft, an Coiffeur- und Tattoo-Schildern. Vorbei am Matte­lift, der wie so vieles hier vor allem der Nostalgie dient. Alle paar Meter schliesst die Buchhändlerin jemanden in die Arme. Sabina, Joshua, Lea, Marie, Ursula, Michael, Silvia: Bernasconi trifft junge Eltern und alte Freundinnen. Es regnet Umarmungen, «Schatzi’s» und «Bist du’s?».

Manchmal sei es ihr schon auch zu eng geworden hier unten, räumt Bernasconi zwischen zwei Begegnungen ein. Man bleibe trotz allem unter sich. Ein Ausflug in die Stadt wird zum Abenteuer, Wanderrucksack inklusive: «Dabei sind es mit dem Lift doch keine fünf Minuten hoch.»

Da kommt ihr aus der Buchhandlung eine junge Frau entgegen («Winja, mein Schatz!»). Gemeinsam mit zwei Kolleginnen führt Winja seit Kurzem den Stiftsgarten unter der Münsterplattform weiter; eine weitere «Oase» in diesem Dorfsquartier. In den Wintermonaten haben die drei Frauen ihr Büro in Bernasconis Laden verlegt. Im Sommer hält diese dafür Lesungen im Stiftsgarten und legt Beeren, Gemüse und Konfitüren neben ihren Büchern auf. 

Sie schätze die Erneuerung, die mit «diesen jungen Leuten» in das Quartier komme, sagt Bernasconi. Und den Austausch: «So bleibt man nicht lange alt.» Mit ihnen lebe schliesslich auch das Mattequartier auf eine neue Art weiter. Zumindest für jene, die es in seinen kleinen Kern schaffen.


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