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Mann, schau dich nur an!

Immer mehr Menschen leiden an Essstörungen – auch Männer. Sie sind wenig sichtbar; in der Schweiz gibt es kaum Erhebungen dazu. Der Berner Psychologe Roland Müller erklärt, wie Männer mit Stigmata und Männlichkeitsbildern kämpfen.

| Lara Mina Christ | Gesellschaft
Der Fitnesstrend verstärkt problematisches Essverhalten bei Männern. Symbolbild: Pixabay

Wenn das Telefon klingelt, nimmt Roland Müller mit ruhiger Stimme ab. Er versucht, den Menschen am anderen Ende der Leitung Sicherheit zu geben. Müller ist Psychologe, er betreut Betroffene von Essstörungen. Bis zu 15 Anfragen nimmt Roland Müller wöchentlich entgegen, seine Kapazitäten reichen aber längst nicht aus. Das Thema ist präsent, die Nachfrage gross, der Platz leider beschränkt. 

Rund 3,5 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung sind im Laufe ihres Lebens von einer Essstörung betroffen. Das entspricht rund 300 000 Personen. Ein Viertel davon sind Männer. Die Dunkelziffer ist hoch; gerade unter Männern werden Essstörungen selten thematisiert. Das Thema ist nach wie vor schambehaftet.

Bereits in jungen Jahren interessierte sich der heute 43-jährige Müller für das Thema Essstörungen, besonders bei Männern. Nach seinem Bachelor- und Masterstudium in klinischer Psychologie absolvierte er das Nach­diplom­studium Psychotherapie an der Universität Bern, gefolgt vom Doktorat in klinischer Psychologie. Als Psychotherapeut arbeitete er unter anderem lange im Berner Inselspital, bis er vor drei Jahren seine eigene Praxis eröffnete. Nebst seiner therapeutischen Funktion leitet Müller das Angebot «Muskel- und Fitnesssucht» an der Fachstelle PEP – Prävention Essstörungen Praxisnah – am Inselspital. Es sei eine positive Entwicklung, dass heute mehr Männer aktiv nach Hilfe suchten, sagt Müller. 

Durck auf Männer steigt

«Die Männer reden mehr als früher», sagt Müller. Das habe sich im Verlaufe der letzten 20 bis 30 Jahre gewandelt. In den 1970er-Jahren gehörte etwa der Ausfall der Regelblutung fest zur Diagnose Magersucht. Männern konnte eine Essstörung so praktisch nicht diagnostiziert werden. Hinzu kommt das Vorurteil, dass Männer keine mentalen Probleme hätten. 

Mit zunehmendem Druck der Werbung auf das männliche Körperbild, Fitnesstrends und Vorbilder in sozialen Medien, verstärkten sich die Selbstzweifel der Männer. Gleichzeitig verschärfte sich die Suche nach Kontrolle und Autonomie im Alltag. «Als Kompensation dient meist der Körper», erklärt Müller. Männer hätten einen anderen Zugang zu ihren Gefühlen als Frauen, oft falle es ihnen schwerer, diese zu benennen und auszudrücken. 

Ernste psychische Erkrankungen bei Männern bleiben teilweise noch heute lange unerkannt, Betroffene werden belächelt. Ob es mehr Fälle von Essstörungen gibt als früher, weiss Müller nicht. Die letzten Daten für die Schweiz stammen aus dem Jahr 2012. Neuere Daten sucht man vergeblich.

Europäische Zahlen weisen auf eine Zunahme vor allem während der Pandemie hin. Vielleicht liege es zu einem Teil auch daran, dass sich Männer heute eher wagen würden, Hilfe aufzusuchen, so Müller. Fakt ist aber: Die Kapazität an Therapieangeboten ist nicht endlos. «Männer reden häufig lieber mit einem Mann über ihre psychischen Schwierigkeiten», meint Müller, wobei es an männlichen Fachpersonen mangle. Sich für den eigenen Körper zu schämen, mentale Schwäche und Überforderung einzugestehen, bleibe für viele Männer noch immer ein Tabuthema.

Übertraining bei Männern

«Bei den Männern erkennt man eine Essstörung meist spät», meint Müller. Ein wichtiger Aspekt dessen ist der Sport. Denn oft verbirgt sich hinter Gesundheitstrends der Kampf mit dem eigenen Körper. Übertraining ist keine Seltenheit, was Auswirkungen auf den Hormonhaushalt, die körperliche Ausbildung eines Jungen und die Knochendichte haben kann. «Muskelmasse ist Teil des Schönheitsideals und der Druck in den Fitnesscentern oft spürbar», ergänzt Müller. 

Die Männer kommen meist aufgrund von Unwohlsein und dem Gefühl, nicht zu genügen, in die Praxis. Im ambulanten Rahmen kommen die Patienten zu Beginn meist sehr regelmässig, nach einiger Zeit bei Bedarf. In der Therapie lernen sie ihr Essverhalten wieder zu normalisieren und den Körper zu beschreiben, statt zu bewerten. Auch die Freizeitgestaltung und Strategien, in gesundem Masse Sport zu treiben, werden thematisiert. 

Einen weiteren Beitrag leiste die Auseinandersetzung mit dem Männerbild, den Rollen und Ansprüchen an das Mann-Sein in der Gesellschaft. «Sie kämpfen in der hektischen Welt eines Leistungssystems und kommen nicht weiter», beschreibt Müller jene Fälle, die ihm besonders nahe gehen. Die hohen Erwartungen an das Selbst haben meist mentale Folgen, was tragische Schicksalsschläge bis hin zum Tod zur Folge haben kann. Solche Erinnerungen schmerzen Müller. Sie bestätigen in seinen Augen die Dringlichkeit und Sensibilisierung für das Thema unter Männern.

«Hauruck» ist falsch

Müller wünscht sich mehr Aufmerksamkeit für das Thema. Schattenseiten werden wenig kommuniziert und psychische Erkrankungen zu wenig ernstgenommen, das soll sich künftig ändern. «Mittlerweile gibt es Bewegungen gegen die Stigmatisierung», so Müller. Mehr zu lesen, sehen, hören, vermehrt Publikationen und sogar Gruppen, die sich mit männerspezifischen Themen beschäftigen. 

Für eine davon, «Männer.ch», hat Müller einen Blogbeitrag verfasst: «In den Köpfen Tabu, im Alltag Realität», beschreibt er die aktuelle Situation. Die Plattform sei eine Möglichkeit, sich unter Männern auszutauschen und präventiv zu handeln. In Bern gibt es eine Reihe solcher Angebote, etwa das Lori-Haus oder die Beratungsstelle der Stiftung Berner Gesundheit. Auch die UPD haben neu eine Abteilung für Jugendliche, die auch junge Männer aufnimmt.

Dennoch gibt es noch viel Luft nach oben. Eine radikale Änderung auf einen Schlag brauche es aber nicht, so Müller: «Extrem ist nie gut.» Das Bewusstsein verändere sich langsam, und das sei meist auch besser. Statt eines Schockmoments seien eine gewisse Offenheit und aktive Beteiligung am Thema bereits wertvoll. 

Für Angehörige ist es ebenfalls wichtig, dass ein offenes Gespräch stattfindet. Man(n) müsse Platz schaffen für wichtige Anliegen, auch wenn es Zeit brauche. Dabei müsse man auch die eigenen Grenzen berücksichtigen, denn «Angehörige sind keine Therapeuten», betont Müller. Hilfe und Rat suchen ist aber durchaus sinnvoll, auch für nicht direkt Betroffene. 

Insgesamt brauche es auch Veränderungen im Gesundheitswesen, welche den Alltag der Patienten und Psychologen positiv beeinflussen könnten. «Bürokratie bringt oft Zeit- und Energieverlust», so Müller. Statt langwieriger ärztlicher Gutachten vor Therapieverlängerungen brauche es beispielsweise einen direkten Kontakt zwischen Patienten und Krankenkassen.

Helfen wo man kann, das sei die Devise – ohne die eigene Gesundheit zu vernachlässigen. Das will auch Müller tun. Für Balance sorgen im Alltag. Musik, Sport und Freunde. So könne er sich in seiner Praxis wieder aufmerksam seinen Patienten widmen: «Es ist immer schön, wenn einem Patienten etwas gelungen ist, eine Intervention erfolgreich umgesetzt und Leichtigkeit in den Alltag integriert wird.» 


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