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Das Kind gab ihr die Kraft zur Flucht
Die heute 24-jährige Bernerin Yvonne wurde ein Jahr lang von ihrem Partner malträtiert. Täterschutz, überforderte Behörden sowie Personalmangel in sozialen Einrichtungen erschwerten ihr den Weg zurück in die Freiheit.
Irgendwo auf einem Spielplatz in Bern: Eine junge Frau stützt sich auf ihren Kinderwagen. Vor ihr ein Bub, der spielt, während die Sonne auf ihre Haut scheint und ihr Gesicht beleuchtet. Ein gewöhnliches Bild, denkt man, doch für die 24-jährige Bernerin Yvonne (Name geändert) keine Selbstverständlichkeit: «Selbst entscheiden, das Haus zu verlassen, in der Öffentlichkeit einen Kaffee trinken und sich unter die Gesellschaft mischen ist nicht selbstverständlich», sagt die junge Frau.
Der letzte Tag in Freiheit
Vor einem Jahr hat Yvonne den Gerichtssaal in Bern zum letzten Mal verlassen. Ein Jahr lebte sie eingesperrt in einer Wohnung in Biel, während ihr Ex-Partner sie täglich jegliche Formen der Gewalt spüren liess.
Als eine Freundin sie mit ihm bekannt machte, war sie erst 16 Jahre alt. Er galt als freundlich und zuvorkommend. Zwei Jahre später trifft sie erneut auf den Mann, der sie spontan zum Abendessen zu sich nach Hause einlädt. «Das war mein letzter Tag in Freiheit», erinnert sich Yvonne.
Sie verbrachte eine Nacht in seiner Wohnung, er war sehr freundlich, ergänzte ihre Weltanschauung und redete bis tief in die Nacht. Nett, aber bestimmt beharrte er darauf, dass sie bis Sonnenaufgang bei ihm bleiben solle. Am Folgetag ein gemeinsamer Ausflug, am Tag darauf erneut. Als Yvonne nach intensiver Gemeinsamkeit Zeit für sich allein beansprucht, erhält sie eine erste Ohrfeige. «Ich war geschockt und schlug zurück», so Yvonne. Er weinte und entschuldigte sich, er habe Angst, sie zu verlieren. Emotional, aber gefasst sagt sie: «Es darf nie wieder passieren.»
Doch es wurde immer schlimmer. Sie beschönigte zunächst die Situationen, in denen er handgreiflich wurde. Komplimente und «das Gefühl, geliebt zu werden», trugen dazu bei.
Mit der Zeit realisiert sie, nur noch in Begleitung unterwegs zu sein und dauernd unter Kontrolle zu stehen. Als sie nach einer Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit unbemerkt von ihm weglaufen will, wird sie am nahe liegenden Bahnhof von Männern abgefangen, in ein Auto gesteckt und in seine Wohnung gebracht.
Dann fing die Leidensgeschichte erst richtig an. «Mein Handy wurde zerstört, im Haus wurde gesagt, ich sei psychisch gestört, bei der Arbeit war ich krankgeschrieben, Freunden und Familie wurden Lügen erzählt», sagt Yvonne. Längeren Kontaktabbruch mit der Mutter gab es bereits in der Vergangenheit, daher folgten wenig Rückfragen.
Hohe Zahlen
Yvonne ist mit ihrer Geschichte nicht alleine. Mehr als 1000 Mal pro Jahr muss die Polizei aufgrund häuslicher Gewalt ausrücken. Im vergangenen Jahr gab es allein im Kanton Bern 1726 Straftaten häuslicher Gewalt, das sind 15 Prozent mehr als im Vorjahr.
Yvonnes Fall ist aber besonders schwerwiegend. «Ich hatte nicht nur eine Nahtod-Erfahrung», so Yvonne. «Oft schlug er mich so lange, bis ich mein Bewusstsein verlor.» Zur Arbeit durfte sie nur in Begleitung. «Seine Freunde waren überall, bei der Arbeit, in der Schule», sagt sie. Es fehlte ihr an Schlaf und Nahrung, Kleidung wurde ihr genommen, um sie zu erniedrigen und einen Fluchtversuch einzuschränken. Permanent wurde auf sie eingeredet, jede einzelne Bewegung beobachtet und interpretiert. Vergewaltigung und verbale Demütigungen waren mittlerweile Alltag. Menschen- und Drogenhandel, Geiselnahmen und Waffenmissbrauch musste sie als Zeugin miterleben. Eingeschüchtert und aus Angst, dass jene, denen sie sich anvertrauen würde, in Gefahr wären, schwieg Yvonne.
Funke der Hoffnung
Mit starkem Untergewicht wurde sie schliesslich ins Spital eingeliefert und musste am Kopf genäht werden. Dabei die Entdeckung: Sie ist schwanger!
Für ihn war das Kind eine Bedrohung, ein Risiko. «Er wollte mich in ein arabisches Land verschleppen, was mit Kind schwieriger gewesen wäre», sagt Yvonne. Als Reaktion darauf begann er, sie in den Bauch zu treten und Medikamenten-Überdosen in ihr Essen und Trinken zu mischen.
Yvonne gab aber die Schwangerschaft die Kraft, um für das werdende Kind zu kämpfen. Sie hat versucht, das Vertrauen des Mannes zu erlangen, und gesagt, was er hören wollte. Mit Erfolg. Einmal durfte sie zwei Tage in den Berufsunterricht und konnte die Wohnung in Begleitung verlassen. Ein flüchtiger Moment ausser Sicht, ein «Fehler» seinerseits, als sie realisierte, «zwei Minuten habe ich Zeit». Also rannte sie los. «Die Flucht werde ich niemals vergessen», sagt Yvonne. Als sie die Schule erreicht, wird eine Schulkameradin auf sie aufmerksam. Mit ihrer Hilfe spricht sie und gemeinsam kontaktieren sie die Opferhilfe.
Der Prozess
Von der Opferhilfe erhielt sie schnell einen Gesprächstermin und einen Platz zum Übernachten. Als Zwischenlösung diente ein gemischtes Wohnen, später wurde sie im Frauenhaus untergebracht. Inständig bittet sie damals um ein Gespräch mit der Kriminalpolizei. Dabei stellt sich heraus, dass der Mann den Behörden bereits bekannt war. Die Rückmeldung der Beamten an das Frauenhaus: «Alles sehr ernst nehmen, es handelt sich um einen Sonderfall!»
Ihr Ex-Partner wurde schliesslich in Untersuchungshaft gesteckt. Bereits seit 20 Jahren beschäftigte sich die Staatsanwaltschaft mit dem Mann, zuvor fehlte es jedoch an Beweisen und den nötigen Zeugenaussagen. Es begann ein langes juristisches Verfahren. Nach sechs Jahren Abklärungen, psychologischen Gutachten und unzähligen Sitzungen endlich ein Resultat: Zehn Jahre Haft, danach zwölf Jahre Landesverweis.
Eine Artikelnummer im System
Als besonders belastend beschreibt Yvonne den schweizerischen Täterschutz. Immer wieder erhält der Mann während seiner Haft Freigang genehmigt. Sie wurde jeweils vorab telefonisch informiert – und traute sich in der Folge kaum mehr aus dem Haus.
Im Frauenhaus traf sie auf viele Fälle von Frauen, die in die Schweiz verschleppt wurden oder ebenfalls Opfer häuslicher Gewalt waren. «Das System hat Lücken», sagt Yvonne. Der Umgang mit Hilfesuchenden sei zuweilen verbesserungsbedürftig. Den meisten Arbeitern auf den Dienststellen fehle der Hintergrund. Die Aufklärung über mögliches Vorgehen sei ungenügend und man werde nicht immer ernst genommen. Viele Opfer befänden sich in einem emotionalen Schockzustand und seien nicht imstande, Entscheidungen zu treffen. «Darauf wird zu wenig Rücksicht genommen.» Generell habe sie sich «wie eine Artikelnummer» gefühlt.
«Es bräuchte vielleicht mehr Personal und Helfer, striktere Trennung und Zuweisung der individuellen Fälle», meint Yvonne. Auch vom Sozialdienst war sie nicht restlos überzeugt. «Ich war froh, ein Dach über dem Kopf zu haben», sagt sie, würde sich aber für andere «mehr Aufmerksamkeit und
individuelle Abklärungen» wünschen.
Und heute? Die Bernerin ist dankbar für ihr Leben. «Ich möchte mit den Erfahrungen etwas anfangen.» Sie hat viel über sich selbst gelernt und will anderen Mut machen, hinzuschauen und zu handeln.
Sie blickt auf ihren Sohn, der Vergangenheit und Zukunft zugleich ist. Seit sechs Monaten ist er ein «grosser Bruder». Yvonne schaffte es, neues Vertrauen aufzubauen, daraus entstand eine Freundschaft, aus Freundschaft Liebe und aus Liebe eine glückliche Familie. Herausforderungen muss sie in Zukunft nicht mehr allein meistern, das wünscht sie sich für alle Frauen.