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Wider das Vergessen

Ein neuer historischer Stadtrundgang durch Bern greift das Thema des Verding- und Vormundschaftswesens auf. Der Historiker und Rundgangmacher Daniel Schläppi gewährt einen ersten Einblick.

| Regula Portillo | Gesellschaft
Das «Schallenhaus» bis 1856: Hinter den Mauern schufteten die Strafgefangenen, davor spazierte das Bürgertum.
Das «Schallenhaus» bis 1856: Hinter den Mauern schufteten die Strafgefangenen, davor spazierte das Bürgertum.

Auf dem Kornhausplatz herrscht trotz des trüben Wetters reger Betrieb: Velos fahren vorbei, ein Tram hupt, Menschen hasten unter Regenschirmen über den Platz und unter den Lauben sitzen zwei ältere Damen und trinken Kaffee. Unvorstellbar, dass hier noch bis 1950 der sogenannte «Knechtenmarkt» stattgefunden hat, wo arme Menschen fein gekleideten Bauern ihre Dienste als Knechte oder Mägde angeboten haben. 

«Sich hier vor den Augen aller Passanten zu verdingen, war natürlich erniedrigend und hatte zudem etwas Anrüchiges, weil automatisch angenommen wurde, die fragliche Person sei von ihren Meistersleuten davongejagt worden», erläutert der Historiker Daniel Schläppi, der den Stadtrundgang «Kehrseiten» im Auftrag der Betroffenenorganisation «netzwerk-verdingt» recherchiert und zusammengestellt hat. Der Kornhausplatz ist eine von insgesamt acht Stationen. 

02 Daniel Schläppi

Daniel Schläppi Foto: Nik Egger

Traurige Tradition

Auf dem Stadtrundgang bekommen die Teilnehmenden einen Einblick in die jahrhundertelange Tradition des Verdingwesens im Kanton Bern. Administrative Zwangsmassnahmen sind keine neue Erfindung – im Gegenteil. Die ältesten überlieferten Verdingmandate stammen aus dem 15. Jahrhundert. 

Zu den Schwierigkeiten bei der Zusammenstellung des Rundgangs sagt Daniel Schläppi: «Wir zeigen etwas, das man eigentlich nicht sieht. Deshalb reden wir von ‹Kehrseiten›. Das andere Problem: Viele ehemalige Zwangsanstalten stehen heute nicht mehr.» 

In diesen Fällen hat Daniel Schläppi viel historisches Bildmaterial dabei. Etwa zum sogenannten «Schallenhaus», das 1615 am heutigen Bollwerk errichtet und bis 1856 als Zuchthaus für Frauen und Männer betrieben wurde. Statt sich um die Armen zu kümmern, produzierte der Rechtsstaat zunehmend Delinquenten, welche unter rigorosem Sanktionsregime zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden – etwa im Strassenbau.

Gesellschaftliche Verantwortung

Seit dem 16. Jahrhundert war die Armenfürsorge Sache der Gemeinden. Geld war keins vorhanden. Und die Bessergestellten, die in den Gemeinden das Sagen hatten, waren nicht bereit, eine Armensteuer zu bezahlen. Das Verdingwesen wurde erst 1981 verboten. Doch Bevormundungen und Fremdplatzierungen galten weiterhin als probate Mittel, um gegen Armut vorzugehen. 

Besonders Mütter von unehelichen Kindern und die unehelichen Kinder standen in der Schusslinie. Kinder wurden in Kinderheimen und mit dem Schuleintritt bei Bauern fremdplatziert, wo sie isoliert von ihren Eltern und Geschwistern bis zum Schulende Verdingkinder blieben und unter schwersten Bedingungen Sklavenarbeit leisten mussten. Hunger, Diskriminierung, Gewalt und sexuelle Übergriffe gehörten zur Tagesordnung. Die Möglichkeit, eine Berufsbildung zu machen, erhielten nur die wenigsten. Viele wurden ein Leben lang als Knechte und Mägde als billigste Arbeitskräfte in der Landwirtschaft ausgebeutet. 

«Das Schreckliche daran ist, dass die Repression aus der Mitte der Gesellschaft kam», gibt Daniel Schläppi auf dem Weg zum nächsten Standort zu bedenken. «Treibende Kraft war die Dorfgemeinschaft. Dazu gehörte der Pfarrer, aber auch Nachbarn und Verwandte. Jeder kannte jeden, man denunzierte sich gegenseitig. Alle wussten Bescheid, was passierte. Das Verdingwesen war gesellschaftlich akzeptiert.» Das heutige Entsetzen über die Grausamkeiten, denen die Betroffenen ausgesetzt waren, mutet den Historiker deshalb scheinheilig an. Fakt ist: Tausende von Menschen wurden entmenschlicht – und das ganze Dorf sah dabei zu.

Im 19. Jahrhundert war Armenpflege noch weitgehend Freiwilligensache. In der Stadt Bern herrschte ein dichtes Überwachungsnetz: 1888 gab es 20 Quartiervorsteher und 77 Aufseher, die Missstände meldeten. «Mit der Zeit erfolgte eine Professionalisierung», schildert Daniel Schläppi vor dem Gebäude an der Predigergasse 10, wo heute das Amt für Erwachsenen- und Kindesschutz, die frühere Vormundschaftsbehörde der Stadt Bern, untergebracht ist. «1920 wurden die Per­sonendossiers eingeführt, nicht zuletzt, um zu verhindern, dass die Leute an mehreren Orten Geld abschöpften.» Doch für die allermeisten Betroffenen galt: Einmal Fürsorgefall, immer Fürsorgefall. «Viele wurden zu Gefangenen des Systems.» So lagern im Stadtarchiv der Stadt Bern heute rund 40 000 Dos­siers von historischen Fürsorge- und Vormundschaftsfällen. Ein Blick in die Dossiers führt die meist fadenscheinigen Begründungen zu Tage, unter denen Menschen Opfer von administrativen Versorgungen und fürsorgerischen Zwangsmassnahmen geworden sind – mit massiven Auswirkungen auf deren Leben und Nachkommen. 

Geschichte durch Erinnern

Eins der zentralsten Anliegen aus Sicht der Betroffenen ist das Erinnern und Nicht-Vergessen. Deshalb initiierte Walter Zwahlen, ehemaliger Präsident der Betroffenenorganisation «netzwerk-verdingt», den Rundgang. Zum Konzept gehört, dass Betroffene von Zwangsmassnahmen und Nichtbetroffene ins Gespräch kommen und sich aktiv einbringen. «Beim Probedurchgang hat das eindrücklich funktioniert», erzählt Daniel Schläppi. «Die Teilnehmenden konnten kaum glauben, was die Betroffenen erlebt haben. 

Genau darum geht es: Von Angesicht zu Angesicht ein Verständnis zu schaffen dafür, wie solche Schicksale entstanden sind. Das geschehene Unrecht im Umgang mit Armen muss zum Allgemeinwissen gehören. Nur so besteht Hoffnung, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.»

Zum Rundgang:

 

Der Stadtrundgang «Kehrseiten» startet auf der Parkterrasse (Postautobahnhof) am Hauptbahnhof und führt in anderthalb Stunden über acht Stationen in der Innenstadt bis auf die Münsterplattform. Termine: 1. Mai, 15. Mai, 5. Juni.

 

Weitere Informationen unter:

www.netzwerk-verdingt.ch


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