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Im Kreislauf zwischen Traum und Wirklichkeit

In Diessbach bei Büren hat die Berner Künstlerin Chantal Michel aus einem verwahrlosten Gutshof ein Reich errichtet, das Kunst, Restaurierung, Landwirtschaf und nachhaltige Lebensweise miteinander vereint. Der Besuch auf «dem Hof» verspricht ein unvergessliches Erlebnis, das alle
Sinne anspricht.

| Bettina Gugger | Kultur
Chantal Michel
Foto: Chantal Michel

Der Wind pfeift um die Ecken des alten Gutshofes in Diessbach bei Büren. Ein weisses Tischtuch flattert im Wind. Stehlampen und Tischleuchten im 50er-Jahre-Design versprühen dennoch eine warme Atmosphäre. Und da wartet auch schon die Gutsherrin Chantal Michel mit einem wärmenden Tee auf die Gäste, in einer langen dunkel geblümten Sonntagsschürze, viktorianischen Schnürstiefeln und geflochtenem Haar. Zu hören ist melancholischer Fado. Korbwaren sind auf einem Tisch drapiert, in einem Körbchen schlummert ein ausgestopftes Rehkitz, eine Auswahl von Konfitürengläschen in den buntesten Farben zeugt vom landwirtschaftlichen Geschick und dem Ehrgeiz der Künstlerin, die in Diessbach bei Büren auch eine Art
Bäuerin geworden ist. 

Mit 400 Wildpflanzen, Kräutern, Beeren, heimischem Gemüse, klassischen Obstbäumen und ein paar Exoten pflanzte sie hier ihr «biodiverses Paradies». «Der Hof» ist bis anhin Michels umfassendstes Projekt. Seit 30 Jahren haucht sie alten, leerstehenden Gebäuden neues Leben ein. Für Furore sorgte sie beispielsweise mit der Wiederbelebung und Umwandlung des Schlosses Kiesen in ein Kunstreich (2008 bis 2011). «Der Brückenkopf» in Bern, 30 Büroräume, die sie in ein Michel-Universum im Stil der 70er-Jahre verwandelte, war ihr letztes Projekt, bevor sie 2019 nach Diessbach kam. 

 Dialog mit dem Denkmalschutz

«Das Gebäude gibt das Thema des Projektes vor», so Michel. Ein Gutshof ohne Landwirtschaft sei nicht denkbar gewesen, lacht sie. So absolvierte sie eine landwirtschaftliche Ausbildung an einer Bioschule. «Kunst erlaubt mir, alles zu sein, was ich sein möchte», so Michel, die einst die Keramikfachklasse in Bern und die Kunstakademie Karlsruhe besuchte. Während ihrer Kindheit und Jugend genoss sie Unterricht in klassischem Ballett, was ihren künstlerischen Ausdruck bis heute prägt. Ihre Landwirtschaft, die sie nach den Grundsätzen der Permakultur betreibt, welche die Ökosysteme und Kreisläufe in der Natur beobachtet und nachahmt, ist eine Allegorie ihrer künstlerischen Haltung. Sie lebt von dem, was ihr die Natur zur Verfügung stellt, in Gebäuden, die sie zur Zwischennutzung findet, stattet die Räume mit Dingen aus Brockenhäusern und alten Hotels aus und integriert darin ihre Kunst. Dabei scheut sie keine Müh, verzichtet auch schon mal auf eine Heizung und den alltäglichen Luxus, auf dem Sofa zu gammeln. Das ist nicht ihr Ding: «Seit 30 Jahren wohne ich nicht mehr», lacht die Künstlerin. Sie muss in Bewegung sein: Sie hat ihr Leben der Kunst gewidmet.

Der Hof aus dem Jahr 1902 stand zehn Jahre leer und befand sich in einem desaströsen Zustand, als Michel ihn bezog. Zuletzt haben in zwei Messies bewohnt, wie die Künstlerin erzählt. In unzähligen Stunden hat sie im Dialog mit der Denkmalpflege Pflastersteine und Fliesen verlegt, Wände verputzt und gestrichen, Böden abgeschliffen. Das Fachwissen eignete sie sich nebenbei an. Während sie bis vier Uhr morgens fermentierte, schaute sie sich Youtube-Tutorials an und vertiefte sich in die restauratorische Recherche. Das Anwesen stand schliesslich in der Schlussrunde für den Spezialpreis der Denkmalpflege des Kantons Bern. 

 Ein sinnliches Gesamterlebnis

Der Blick fällt in einen Keller, vielleicht ein ehemaliger Geräteschuppen, indem eines von Michels Werken zu sehen ist. Die Fotografie zeigt Chantal Michel als Dame im Stil des 18. Jahrhunderts gekleidet, surrealistisch interpretiert, im Dialog mit ihrer «Zwillingsschwester». In ihren performativen Foto- und Videoarbeiten, in denen sie in die unterschiedlichsten Rollen schlüpft, lässt sie sich stets vom Raum inspirieren, den sie sich tänzerisch erschliesst, wie in Diessbach handwerklich gestaltet und künstlerisch neu interpretiert. «Weil ich so oft alleine bin, erschaffe ich mir meine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner gleich selbst», erklärt Michel ihre Arbeit mit ihren Zwillingspaaren oder Vierlingen, wie sie in der Ausstellung zu sehen sind. 

Während die Künstlerin die Besucherinnen und Besucher ums Haus führt und sich Düfte, Klänge, Erklärungen zur Restaurierung, ihrer Lebensphilosophie und der Blick auf
ihre Kunstwerke zu einem sinnlichen
Gesamterlebnis vermischen, verschwimmt auch die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen der Gutsherrin und der Künstlerin. Die Figuren aus ihren Werken scheinen aus den Fotografien und Videoarbeiten herauszutreten und den Rundgang zu begleiten. «Wir bleiben heute draussen», erklärt Michel. Während sie in den Sommermonaten in Workshops und an Veranstaltungen den Blick auf den Garten richtete, steht bei diesem winterlichen Happening das Haus und sein geheimnisvolles Inneres im Zentrum. 

Der Blick durchs Fenster im Erdgeschoss offenbart eine festlich geschmückte Tafel, im Hintergrund steht noch der kleine, mit bunten Kugeln geschmückte Christbaum. Ein Badezimmer mit einer Füsschenbadewanne und dem passenden Waschbecken aus den 1920er-Jahren aus dem Hotel Terminus in Frutigen verzaubert durch seinen Seifenduft aus alten Zeiten. Die ockerfarbenen Fliesen und die ornamentale Wandmalerei sind fein aufeinander abgestimmt. Stunden hat Michel mit dem Mischen der Farbe verbracht, um den richtigen Farbton zu kreieren. Neben dem Waschbecken hängt links und rechts ein weissgekleidetes Zwillingspaar, das sich in einem weissen Raum bewegt, Hüterinnen der Reinheit. In diesem Badezimmer hat noch nicht mal die Gutsherrin selbst ein Bad genommen, aus Angst, in diesem sakral anmutenden Raum Gebrauchsspuren zu hinterlassen, wie sie lachend erzählt. 

Der Klang der Musikdose im Hof­laden knüpft an dieses wohlige Gefühl des Aufgehobenseins an. Neben Kasperlefiguren, Holzkühen, alten Postkarten und rätselhaften Küchenutensilien gibt es Michels eingemachte, eingelegte und fermentierte Ernte zu bestaunen, welche die Gäste käuflich erwerben können. Darunter Stachys, getrocknete Vogelbeeren oder chinesische Datteln. Die Künstlerin selbst ernährt sich zu 100 Proeznt von ihrer Ernte.

Der Rundgang endet im warmen Gewölbekeller an einer festlich geschmückten Tafel. Genährt von den vielen Eindrücken, die mit den Tischgenossinnen und Tischgenossen geteilt werden wollen, geniessen die
Gäste das Festmahl der Gutsherrin. 

Am nächsten Morgen reibt sich der Gast verwundert die Augen und fragt sich: War dieser Abend in Diessbach bei Büren Wirklichkeit oder bloss ein Traum? Und wer ist diese Chantal Michel, die alles sein kann?

 

Ausstellung inkl. 4-Gang-Diner, Diessbach bei Büren, jeden Samstagabend, 18.00 Uhr oder nach Vereinbarung. Anmeldung unter: 031 311 21 90. Weitere Infos: chantalmichel.ch


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