Skip to main content

-


Anzeige

Anzeige


Übers Kreise schliessen

Unsere Kolumnistin hat einen Brief an ihr achtzehnjähriges Ich geschrieben und ihn am Literaturfestival Literaare in Thun vorgelesen. Er erscheint hier in gekürzter Form.

| Saskia Winkelmann | Kultur
Saskia Winkelmann
Foto: Eglė Šalkauskyte

Liebe Saskia, das ist ein Moment, in dem sich ein Kreis schliesst. Du glaubst grad, dass alles möglich ist, also hör mir zu. Ich bin in der Stadt, in der Du bist, aber ich lebe nicht mehr hier. Ich bin an einem Literaturfestival. Ich bin dreiunddreissig. Du bist achtzehn, aber das weisst du grad nicht. Du schaust in einen Spiegel und erkennst dich nicht. Du fühlst, wie unglaublich klein Du bist. Die Zeit fällt in sich zusammen, wie ein unsorgfältig gebautes Haus aus Strohhalmen. Ich bin nicht viel schlauer als Du, aber ich weiss ein paar Dinge. Schlaf erstmal. Du wirst die Matura schaffen, auch wenn sich Nacht für Nacht Dein Bett in ein Loch herabsenkt. Halte es aus, es wird nachlassen.

Bewirb Dich zwei Mal an dieser Hochschule, sie werden Dich dann nehmen. Du wirst langsamer sein als die anderen. Du wirst in der Zeit kaum schreiben, Du wirst nur das Begehren füttern, schreiben zu wollen, wie ein Feuer mit Scheiten. Dein Schreiben wird auch später noch vom Nicht-Schreiben geprägt sein. Vertraue dieser Stimme, die plötzlich auftaucht, die mit einer Dringlichkeit zu Dir spricht, die Du nicht verstehst. Es wird viel später ein Text daraus entstehen, wegen dem wir heute hier sind. Vertraue auf das, was sich wichtig anfühlt, auch wenn Du nicht sagen kannst, warum. Vertraue auch diesem Körper; fange an, ihn zu bewohnen, es liegt ein Schlüssel darin. Schreibe Dir den Text nahe heran, verliebe ihn Dir ein, fürchte Dich nicht zu sehr, die Regeln zu brechen. Schicke ihn an viele Leute, sie werden alle Nein sagen, und wenn Du denkst, es klappt nicht mehr, schicke ihn noch an diesen einen Verlag.

Du wirst Deinen Text mehrmals umwühlen, Du wirst zweifeln. Zwischen Druck und Veröffentlichung wird Dich eine heftige Welle Scham überrollen, aber du kennst das ja. Ich weiss auch immer noch nicht wie damit umgehen: sich schämen dafür, dass wir sind. Aber das wird vorbeigehen, und irgendwann wirst Du auch Freude und Erleichterung spüren. Du wirst den Roman danach an vielen Orten lesen, Du wirst erst nach und nach verstehen, was Du da gemacht hast. Du wirst irgendwann wieder in dieser Stadt vor Leuten stehen, die Dich anschauen, aber nichts wird sich auflösen. Wir können es aushalten, wenn es ein bisschen zu viel ist. Wir sind noch da. Wir dürfen an seltsamen Stellen im Leben lachen. Geh jetzt los.

 

Saskia Winkelmann ist freie Autorin und DJ. Sie hat im April 2023 ihren ersten Roman «Höhenangst» beim Verlag die Brotsuppe veröffentlicht.


Ihre Meinung interessiert uns!


Verwandte Artikel


Grandes Dames

Carola Ertle und Günther Ketterer erinnern sich in dieser Kolumne an zwei grosse Künstlerinnen, die letztes Jahr gestorben sind: Beatrix Sitter-Liver und Ka Moser.

Vier Fäuste für einen Gonzo

 Unser Kolummnist Bubi Rufener widmet sich heute gleich zwei Buchstaben, zur Kompensation seiner Abwesenheit. Wir werden mit «C» und «D» verwöhnt. 

In der Wendeschleife des Lebens

Regula Portillos dritter Roman handelt vom Abschiednehmen. Während die Protagonistin Anna im Alterspflegeheim als Pflegefachkraft regelmässig mit dem Tod konfrontiert ist, trifft sie das plötzliche Verschwinden des jungen Mannes, der auf seiner Interrail-Reise ihr Sofa zum Übernachten benutzte, w...