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«Die Vielsprachigkeit muss von Anfang an mitgedacht werden»

Der Verlag Der gesunde Menschenversand publiziert die deutsche Übersetzung von Alexandre Lecoultres Roman «Peter und so weiter», der 2021 mit einem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Der «Anzeiger Region Bern» sprach mit der Übersetzerin, Redaktorin und Literaturvermittlerin Ruth Gantert über die Freuden und Tücken des Übersetzens.

| Bettina Gugger | Kultur
Peter
Ruth Gantert engagiert sich für die literarische Mehrsprachigkeit der Schweiz. Sie übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Rätoromanischen. Foto: Rico Engesser

 «Anzeiger Region Bern»: Ruth Gantert, was war Ihr erster Leseeindruck von Alexandre Lecoultres «Peter und so
weiter»?
Ruth Gantert: Ich empfand eine Mischung aus Amüsement, Befremden und Faszination. Ich musste beim Lesen lachen, gleichzeitig ist der Text auch melancholisch.

Wie ist es zur deutschen Übersetzung gekommen?
Alexandre Lecoultre gewann 2021 mit diesem Roman einen Schweizer Literaturpreis. In einer Broschüre stellt das Bundesamt für Kultur die prämierten Bücher jeweils vor. Ich wurde angefragt, dafür einen Ausschnitt aus dem Buch zu übersetzen. Dadurch kam der Verlag Der gesunde Menschenversand auf mich zu.

Der Verlag Der gesunde Menschenversand ist eigentlich für Spoken-Word-Literatur bekannt …
Alexandre Lecoultre hat beim Lesen eine performative Seite. Er trat mit dem französischen Buch mit einem Akkordeonisten auf und stellte das Buch als musikalische Performance vor. Leider kam dann Covid dazwischen. Das Mündliche und Sprachspielerische des Spoken Word ist dem Text eigen. Das Buch lässt sich aber natürlich auch leise im stillen Kämmerchen lesen.

Alexandre Lecoultre ist selbst auch als Übersetzer tätig. Er beschreibt die Arbeit des Übersetzens als lichtvollen Weg, während der Weg beim Schreiben durch die Finsternis führe. Wie ist es Ihnen beim Übersetzen von «Peter und so weiter» ergangen?
Die Aussage kann ich nachvollziehen. Als Übersetzerin hat man bereits einen Text vor sich, man muss nicht nach der Inspiration suchen. Es ging darum, die Vorlage, die sehr sprachspielerisch ist, auch so umzusetzen, damit die Übersetzung das Schräge, Melancholische und Lustige gleichermassen wie der Originaltext transportiert.

Was macht eine gute Übersetzerin aus?
Eine gute Übersetzerin ist eine genaue Leserin, die weder am Text klebt noch über dem Text schwebt, sondern versucht, die Wirkung, die der Text hat, der Leserschaft zu vermitteln.

Sie standen vor einer schwierigen Grundsatzentscheidung. Das Original handelt von einem welschen Protagonisten in einem Deutschschweizer Dorf, das der detaillierten Beschreibung zufolge Zürich sein muss …
Genau, die Umkehrung, aus Peter einen Deutschschweizer zu machen, der sich in der Westschweiz bewegt, funktioniert nicht, da der Ort zwar nicht benannt, aber ziemlich genau beschrieben ist. Die Fremdheit musste ich auf eine andere Art erzielen, durch die Sprachreibung zwischen dem Schweizerdeutschen und dem Hochdeutschen. Die Fremdheit des Protagonisten hat ausserdem etwas sehr Existenzielles und hängt nicht alleine an der Sprache. Peter ist ein Aussenseiter, der sich ausserhalb der Gesellschaft bewegt, er trägt dieses Fremdsein in sich, wo immer er ist.

Was unterscheidet den welschen Peter vom deutschen?
Für mich ist es grundsätzlich die gleiche Figur, sie zeigt sich jedoch mit anderen Mitteln. Peter könnte irgendeine Form einer leichten psychischen Störung haben, das wird nicht präzisiert. Man soll es auch nicht diagnostisch festmachen. Peter ist anders als die anderen, aber was dieses Anderssein genau ist, weiss man nicht. Faszinierend ist, wie dieser Aussenseiter gleichzeitig zur zentralen Figur wird, da sich alle anderen Personen des Dorfs ihm anvertrauen.

Wie hat sich Ihr Blick auf «Peter und so weiter» während der Übersetzungsarbeit verändert?
Ich habe die Feinheiten besser durchdrungen. Bei der ersten Lektüre ist man einfach in der Geschichte drin, an der Oberfläche. Je länger ich mit der Übersetzung beschäftigt war, desto mehr bemerkte ich die Tiefe des Textes, die philosophische Dimension rund ums Fremdsein, die sich aber nicht aufdrängt. Der Text berührt existenzielle Fragen wie: Was bedeutet das Fremdsein auf der Welt? Was ist das richtige Leben, was ist die Kunst? Welche Beziehung unterhalten wir zu anderen? Geht unser Leben immer so weiter oder gibt es entscheidende Wendungen? Wie und warum treten sie ein?

Die Schweiz ist ein viersprachiges Land, dennoch sprechen die meisten Schweizerinnen und Schweizer die Zweit- und Drittsprache mehr schlecht als recht. Woran liegt das?
Das ist eine gute Frage. Wir sind stolz auf unsere Viersprachigkeit, wobei die wenigsten Leute wirklich viersprachig sind – die meisten (Minderheiten ausgenommen) können nur eine Sprache gut. Es ist nicht einfach, in mehreren Sprachen zu Hause zu sein. Wir nehmen uns nicht die Zeit dafür. Wir lernen die Sprachen zwar in der Schule, aber der Austausch, der dazu führen müsste, dass wir mehrsprachig sind, fehlt – auch mal im anderen Sprachgebiet leben, das machen nur wenige. Peter macht das.

Sie sind Projektleiterin von Viceversa Literatur, dem Jahrbuch, das sich den vier Literaturen der Schweiz widmet und der gleichnamigen Webseite, die mitunter das umfassendste Verzeichnis aller in der Schweiz lebenden Autorinnen und Autoren beinhaltet und Rezensionen von Neuerscheinungen publiziert. Das BAK stellt nächstes Jahr seine Unterstützung von Viceversa Literatur ein, mit welcher Begründung?

Es war eine juristische Begründung. Die auf das Sprachengesetz gestützte Verordnung über die Landessprachen habe geändert und die Literatur sei nicht mehr Teil davon, hiess es seitens des BAK.

Wie geht es jetzt mit Viceversa Literatur weiter?
Wir geben gerade die neuste Nummer, die im Mai erscheint, in Druck. Wie es nachher weitergeht, wissen wir noch nicht.

Was müsste unternommen werden, um den Austausch der Literaturen in der Schweiz zu stärken und die Übersetzungen zu fördern?
Ich glaube, es braucht viele Initiativen in der Art von Viceversa Literatur, welche die vier Landessprachen und alle Sprecherinnen und Sprecher, die eine andere Sprache als eine der Landessprachen sprechen, vereinen, sei dies in Form von Festivals, Publikationen und Begegnungen. Die Vielsprachigkeit muss von Anfang an mitgedacht werden und soll nicht als aufoktroyiert empfunden werden.

Ruth Gantert
… wurde 1967 in Zürich geboren, wo sie heute lebt. Sie studierte Romanistik in Zürich, Paris und Pisa. 2004 bis 2011 war sie Dozentin für französische Literatur an der Pä­dagogischen Hochschule St. Gallen. Sie ist Redaktorin, Literaturvermittlerin und übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Rätoromanischen. Ruth Gantert ist Künstlerische Leiterin des Service de Presse Suisse, Geschäftsführerin der Fondazione Casa Atelier Bedigliora (TI) und Redaktionsleiterin des dreisprachigen Jahrbuchs der Schweizer Literaturen Viceversa und der Internetplattform
www.viceversaliteratur.ch (pd)

 

Alexandre Lecoultre
… wurde 1987 in Genf geboren und lebt heute in Bern. Er studierte Geografie und Sozialwissenschaften in der Romandie. Er schreibt Prosa und Lyriktexte, die er in musikalischen Performances inszeniert. Gleichzeitig ist Alexandre Lecoultre auch als Übersetzer tätig.
Sein Roman «Peter und so weiter» (L’Âge d’homme 2020) wurde 2021 mit einem Schweizer Literaturpreis und weiteren Preisen ausgezeichnet.(pd)

14 2024 Peter II

 

Alexandre Lecoultre: «Peter und so weiter». edition spoken script 49. Übersetzung: Ruth Gantert. Der gesunde Menschenversand, 2024.


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