Skip to main content

-


Anzeige

Anzeige


Vom Trauma zur Endzeit-Party

Die 18 internationalen Theaterinszenierungen des diesjährigen auawirleben Theaterfestival Bern stehen im Zeichen der Aufarbeitung politischer und sozialer Konflikte. Das Festivalzentrum in der Markuskirche bietet gastronomische Genüsse, Konzerte und Partys und sorgt damit für einen niederschwelligen Einstieg in die Theaterwelt.

| Bettina Gugger | Kultur
Aua
«Carte Noire nomée Désir» von Rébecca Chaillon widmet sich der Hypersexualisierung und Exotisierung Schwarzer Körper und Identitäten. Foto: Christophe Raynaud de Lage

Am 22. Mai startet das Theaterfestival auawirleben unter dem Motto «How did we get here?» mit der 42. Ausgabe. «Unser gesellschaftliches Navi scheint gerade irgendwie an den Abgrund zu führen – und wir folgen ihm stur», schreibt das aua-Team im Programmheft. Ein Blick zurück lohne sich: «Damit wir nicht immer wieder dieselben Fehler machen, und auch, um uns klar zu werden, wo wir eigentlich falsch abgebogen sind». In diesem Sinne widmen sich 18 internationale Gruppen an sechs Spielorten im engeren und weiteren Sinne dem Offenlegen unserer kollektiven Traumata.
In «The Voice of Fingers» thematisieren Said Reza Adib, der für afghanische und iranische Medien tätig war und heute als Journalist und Autor in Finnland und Griechenland lebt, und der Regisseur Thomas Bellinck aus Brüssel die Ungerechtigkeiten der internationalen Mobilität.
Die Performance «Guilty of Love» mit Marie Schraepen, Sophia Bauer und Mats Vandroogenbroeck aus Brüssel kritisiert die Erotisierung sexueller Gewalt im westlichen Kulturschaffen.
In «Scored in Silence» von Chisato Minamimura aus London erhalten die gehörlosen Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki von 1945 durch eine Solo­performance in Gebärdensprache eine Stimme.

Nahe am Ausgehverhalten

«Unsere Vorstellungen sind nicht anspruchsvoller als die Inszenierung von Klassikern», so Festivalleiterin Nicolette Kretz über das gängige Vorurteil, dass zeitgenössisches Theater schwer zugänglich sei: «Die Themen, die auf der Bühne verhandelt werden, sind ­allen bekannt.» Sie betont das gemeinschaftliche Erlebnis eines Theaterabends. «Das Festival orientiert sich am Ausgehverhalten. Wir haben keinen Dresscode, es herrscht eine entspannte Atmosphäre und genügend Raum, um sich auszutauschen.» Ausserdem gebe es kein «richtiges Interpretieren» einer Inszenierung. «Im Anschluss an jede Inszenierung haben die Festivalbesucher Gelegenheit, sich mit den Künstlerinnen und Künstlern zu unterhalten.» Das helfe, ein Stück einzuordnen, und vermittle einen anderen Blickwinkel auf das Gesehene.
Auch setzt sich das Festival für Barrierefreiheit ein, so werden beispielsweise einige Vorstellungen mittels ­Audiodeskription Menschen mit einer Sehbehinderung zugänglich gemacht und alle Spielorte sind Menschen mit Mobilitätsbehinderung zugänglich.
Auf dem Programm stehen auch inhaltlich leichtere Inszenierungen wie beispielsweise «Proxemics» von Salomé Mooij aus Antwerpen/Maastricht, die sich in ihrer Performance mit der physischen Nähe und Distanz im täglichen Miteinander auseinandersetzt.
«Fun Fact», eine Zusammenarbeit aus Estland und Slowenien, inszeniert gemäss estnischer Tradition ein Quiz in einem Gemeindehaus, um verbindenden geschichtlichen Ereignissen nachzugehen.

Das Festivalzentrum als Begegnungsort

Zum ersten Mal hat das Festival mit der Markuskirche und dem dazugehörigen Gemeindehaus ein eigenes Festspielhaus. «Zentrum Markus – Beiz» beherbergt eine Küche mit ausschliesslich veganen Leckereien und eine Bar, betrieben von Martin Schöni und Marc Stuker. Schöni, langjähriger Catering-Verantwortlicher des auawirleben war Teil des vierköpfigen Teams, welches von Oktober bis Januar die Markuskirche in ein Pup-up verwandelte und stellte den Kontakt zur Markuskirche her. «Ein absoluter Glücksfall», freut sich Kretz über die Kooperation, die kurzfristig zustande kam. Eine Lounge und ein Relaxed Space versprechen etwas Ruhe vor oder nach der Inszenierung. Im «Zentrum Markus – Beiz» finden ebenfalls diverse Theaterproduktionen, Konzerte und Partys statt.

Niederschwelliger Einstieg in die Theaterwelt

Das Duo «Irié», aka Gabriella Plumettaz und Niria Kaufmann aus Bern, betört durch elektronische Beats und sinnlichen Gesang, während die Bernerin Alwa Alibi für melancholischen, eindringlichen Mundart-Rap sorgt. Am ersten Festivalsonntag begleitet Noti Wümié einen Brunch – u. a. mit Liedern, die im Moment entstehen.
Das Gemeindehaus (Zentrum Markus – Annex) dient ebenfalls als Veranstaltungsort für Inszenierungen und Installationen. Hier spielt eine der zwei Schweizer-Produktionen aus dem Tessin, «Je suisse (or not)». Darin nähert sich Camilla Parini der Frage, welche Familiengeschichten weitergegeben werden und wo Bilder und Erinnerungen auseinanderbrechen. Ein Podium geht der Frage nach, wie Zugänglichkeiten und Strukturen in den darstellenden Künsten neu gedacht werden können, ausgehend von einem Forschungsprojekt der Hochschule für Künste Bern, das untersucht, wie Theater und Tanzproduktionen zirkulieren können.
«Unser Festivalzentrum soll einen niederschwelligen Einstieg ins Festival schaffen», so Isabelle Jakob, Kommunikationsverantwortliche von auawirleben. «Wer auf einen Feierabenddrink bei uns vorbeischaut, bekommt vielleicht auch Lust, sich später eine Inszenierung anzuschauen». In diesem Sinne wartet die Festivalbeiz etwa auch mit einem Pub-Quiz oder einer Pingpong-Nacht auf.
Zum krönenden Abschluss findet im Festivalzentrum mit «Nouveau Sauvage» eine Party mit «künstlerischen Interventionen für ein poetisches Endzeit-Szenario» statt. Martin Schick und andere Kunstschaffende hinterfragen dabei spielerisch die Party-Konventionen.
Für alle, die angesichts des reichhaltigen Programmes überfordert sind, eine Wahl zu treffen, und die sich gerne in der Gruppe über den Theaterabend austauschen, bietet das Festival eine «Pauschalreise» an, darin sind vier Vorstellungen mit individueller «Reiseleitung» und mit zusätzlichen Informationen zum Festival sowie einer Führung durchs Schlachthaus Theater enthalten.
Und auf welche Inszenierung freut sich die Festivalleiterin Nicolette Kretz am meisten? «Das wechselt ständig. Aber im Moment ist es ‹Mothers – a song for wartime›». Darin singen, sprechen und schreien 21 Frauen aus der Ukraine, Polen und Weissrussland gegen den Krieg an, inszeniert von Marta Górnicka.

22. Mai bis 2. Juni.
Spielorte: Dampfzentrale, Grosse Halle, Schlachthaus Theater, Tojo Theater Reitschule, Zentrum Markus - Annex, Zentrum Markus - Beiz
Spielplan und Infos: auawirleben.ch


Ihre Meinung interessiert uns!


Verwandte Artikel


«Wenn niemand lacht, beginne ich zu schwitzen»

Die Komödie «Die Dampfnudel» von Dmitrij Gawrisch feiert bei Bühnen Bern Premiere. Der «Anzeiger Region Bern» sprach mit dem Autor und Reportagen-Redaktor über das Stück und sein Verhältnis zu seinen drei Heimaten.

«En eigechöpfige Mitkämpfer für d Freiheit und d Grächtigkeit seg er gsi»

Andri Beyeler widmet sich in seiner neusten Publikation, «Sang von einem Drucker und Siedler», dem Leben des Kommunisten Fritz Jordi, der als Drucker, Verleger und Siedler vielfach gewirkt hat. Mit Zeichnungen im Stil von Linoleum-Schnitten antwortet der Autor auf die bewegte Biografie, die ihren...

«Die Welt ist auf­geladen. Das andere kann auch in einem selbst sein»

«Die Entführung aus dem Serail» ist Barbara Webers erste Operninszenierung. Der «Anzeiger Region Bern» besuchte eine Probe und sprach mit der Regisseurin über Mozarts innere Welten und eine moderne Interpretation, die den Serail als Versuchsanordnung ins Zentrum rückt.